Re: Kiss me

31.08.   09:35

Liebe Lena,

als ich Deinen letzen Brief las, dachte ich zuerst, es wäre vielleicht besser, sich das alles einmal persönlich zu sagen. Das wäre einfacher als lange schriftliche Ausführungen. Nach Deiner ersten Mail war ich sehr euphorisch und hatte große Lust, Dich gleich wiederzusehen. Habe ich zwar immer noch, aber inzwi­schen halte ich das – zumindest kurzfristig – für eher unrealistisch und bin mir auch nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee wäre. Von daher schreibe ich lieber ein bißchen, denn ich finde es auch gut, über Dinge zu sprechen, aber da wir keinen Kontakt mehr hatten, war das ja nun nicht möglich.

Das mit der nicht mehr aktuellen Telefonnummer lasse ich übrigens nicht gelten. Mit ein paar Klicks bei Google hättest Du mich in weniger als einer Minute gefunden, mit Email und Telefon (zumindest dienstli­che Nummer). Daß Du Dich nicht gemeldet hast, hatte offensichtlich andere Gründe ...

Mir ist es durchaus sehr wichtig, daß Du meine Sicht kennst und zumindest ein bißchen verstehst und ich mich vielleicht sogar ein bißchen rehabilitieren kann. Ich finde es schade, daß Du mich anscheinend pri­mär mit schlechten Erinnerungen, miesen Gefühlen oder einfach nur Wut assoziierst. Ich weiß, daß Dein Selbstwertgefühl noch geringer als meines ist und daß Dich dieses Auseinandergehen sehr verletzt hat. Vielleicht wäre es aber trotzdem gut, auch mal eine andere Perspektive einzunehmen und unser Schei­tern nicht nur als mein Fehlverhalten zu sehen, sondern auch als Resultat einer äußeren Konstellation, für die weder ich noch Du Schuld tragen.

Ich habe in letzter Zeit viel an uns und die gemeinsame Zeit damals gedacht und versucht, mir alles nochmal zu vergegenwärtigen, aber das ist gar nicht so einfach. Ich weiß nicht, wie es bei Dir ist, aber ich habe nach all den Jahren auch Vieles schlicht vergessen oder weiß nicht mehr, ob meine Erinnerungen Wirklichkeit oder bloße Einbildungen sind. Das geht mir aber bei fast allen Dingen im Leben so (leider); das allermeiste wird vergessen. Deswegen würde ich auch niemals beschwören wollen, daß es so war, wie ich vermute. Ich weiß zum Beispiel leider gar nicht mehr, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben. Und wie lange waren wir eigentlich zusammen, also vom ersten Kuß bis zum Ende? Was ich aber noch ziemlich sicher weiß ist, daß Du dann letztendlich den Kontakt abgebrochen und ich es geschehen lassen habe; die Details liegen aber im Dunkeln.

Das mit dem Zeitvertreib ärgert mich natürlich, weil es definitv nicht stimmt. Ich war genauso im Rausch wie Du. Genauso verrückt nach Dir. Haben wir uns nicht so gut wie jeden Nachmittag nach der Arbeit gesehen und soviel Zeit wie möglich miteinander verbracht? Ich weiß noch, daß Du mich mal in H. besucht hast. Sogar Constanzes Geburtstag verbrachte ich mit Dir (ich glaube wir waren bei einer Lesung). Und meine Sorgen wegen dem Altersunterschied habe ich öfters angesprochen, das waren keine Phrasen. Mit Anfang Zwanzig ist es sicher einfacher, so etwas zu wagen. Was hat man auch schon zu verlieren? Es ist ja spannend und aufregend und wenn es nicht klappt, probiert man halt was Neues. Mit Anfang Dreißig sieht die Welt aber anders aus und da Du dieses Alter jetzt selbst durchlaufen hast, kannst Du es ja vielleicht auch etwas nachvollziehen.

Ich weiß nicht, ob ich über konkrete Familiengründungspläne gesprochen habe, aber das ist glaube ich auch nicht so wichtig. Kinder kriegen steht doch primär für eine andere Lebensphase und darum ging es. Wer sich mit Anfang Dreißig auf eine neue Beziehung einlässt und prinzipiell gerne eine Familie hätte, denkt immer auch daran. Bei Frauen ist das doch viel stärker ausgeprägt. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber in der Regel spielt die Frage, ob eine langfristige Beziehung inklusive Familie prinzipiell möglich ist, dann immer auch eine Rolle, bewußt oder unbewußt. Auch Frauen sind dann berechnend und überlegen, ob man mit dem Neuen potentiell eiine längere Zukunft hat. Ob das dann tatsächlich was wird ist ja erstmal zweitrangig. Ich kenne mehrere Frauen, die sich trotz glücklicher Beziehung von ihrem Partner trennten, weil der keine Kinder wollte. Klar, als Mann kann man auch alles später machen (mein Vater war so um die 45 bei meiner Zeugung …). Das dann auch Liebe dabei sein sollte, ist ja selbstverständlich, aber Liebe ist in dieser Lebensphase nicht mehr alles, es gibt auch ein paar andere Kriterien. Man wird doch grund­sätzlich wählerischer, je älter man ist, oder? Ich würde das nicht nur negativ als berechnend bezeichnen, sondern auch als ein Ausdruck von Lebenserfahrung, mit der man hofft, aus Vergangenem zu lernen und Fehler nicht zu wiederholen.

Sie es doch einmal umgekehrt: Du bist Anfang Dreißig und in einer Beziehung, die sich dem Ende nähert. Dann lernst Du einen jungen, lebenslustigen Studenten Anfang Zwanzig kennen. Ihr verliebt Euch, habt eine Affäre. Du hättest Lust auf eine längere Beziehung. Mit dem Jungen wird es aber wahrscheinlich in den nächsten 5-10 Jahren keine Kinder geben und ob er in dem Alter überhaupt eine längere Beziehung mit einer neun Jahre älteren Frau will, ist ungewiss. Wie würdest Du Dich entscheiden?

Warum habe ich mich nicht früher von Constanze getrennt, was dann ja nachher doch passiert ist? Jetzt im Nachhinein scheint es mir so, daß es für mich – vielleicht unbewußt – auch ein Schutz war. Hätte ich mich getrennt, wären wir beide selbstverständlich ganz zusammen gekommen, vielleicht sogar für viele Jahre. Aus den genannten Gründen hatte ich wohl Panik davor, Angst vor einer Sackgasse. Das Gefühl, die Zeit läuft davon. Natürlich war es verlockend, mit einer jungen attraktiven Frau eine aufregende und leiden­schaftliche Beziehung fortzusetzen. Aber wie gesagt, in meinem Leben war damals so vieles ungewiss und ein Provisorium; vermutlich hatte ich Sorge, die falsche Entscheidung zu treffen. Ich spürte glaube ich, daß dieses studentenartige Leben in B. zwar schön, aber eigentlich unpassend ist und ich hatte Angst mich darin zu verlieren und damit vielleicht anderen wichtigen Entscheidungen auszuweichen (meine heutige Interpretation. Wie gesagt, es ist für mich nicht mehr Alles von damals abrufbar). Und wenn man dann lang genug wartet und nicht weiß, was man tun soll, trifft der andere eben eine Ent­scheidung.

Nun bist Du ja auch erst mit Mitte Dreißig Mutter geworden, diesbezüglich lag ich mit meiner Vermutung also gar nicht so falsch. Aber ob die Entscheidung der Trennung damals nun richtig oder falsch war, wer­den wir wahrscheinlich niemals erfahren. So wie halt bei den meisten Entscheidungen im Leben. Und man vermisst immer, was man nicht hat. Wir hätten es natürlich auch versuchen können, wenn ich innerlich freier und etwas entspannter bezüglich Zukunft etc. gewesen wäre. Vielleicht wäre ein „Ich liebe Dich, Du Arsch“ ja nicht verkehrt gewesen. Ich muß bei der Ünmöglichkeit, zu wissen, ob man die richtige Wahl trifft, immer an Kundera denken, der es sehr treffend formuliert hat:

„Er haderte mit sich, bis er sich schließlich sagte, es sei eigentlich ganz normal, daß er nicht wisse, was er wolle. Man kann nie wissen, was man wollen soll, weil man nur ein Leben hat, das man weder mit frühe­ren Leben vergleichen noch in späteren korrigieren kann. Es ist unmöglich zu überprüfen, welche Ent­scheidung die richtige ist, weil es keine Vergleiche gibt. Man erlebt alles unmittelbar, zum ersten Mal und ohne Vorbereitung. Wie ein Schauspieler, der auf die Bühne kommt, ohne vorher je geprobt zu haben. Was aber kann das Leben wert sein, wenn die erste Probe für das Leben schon das Leben selber ist? Aus diesem Grunde gleicht das Leben immer einer Skizze. Auch >Skizze< ist nicht das richtige Wort, weil Skizze immer ein Entwurf zu etwas ist, die Vorbereitung eines Bildes, während die Skizze unseres Lebens eine Skizze von nichts ist, ein Entwurf ohne Bild.“

Die intensive gemeinsame Zeit wird uns jedenfalls immer miteinander verbinden und all die damit ein­hergehenden Gefühle werde ich nicht vergessen, selbst wenn wir uns nie wiedersehen sollten (was ich eigentlich aber trotzdem nicht hoffe).

Noch zu dem Lied. Das Intressante ist: ich habe diesen Song ewig nicht mehr gehört und auch nicht daran gedacht. Aber nach Deiner ersten Mail hat es nicht lange gedauert und ich hatte ihn plötzlich wieder im Kopf. Blondie wußte ich nicht mehr, aber immerhin. Habe ihn dann ein paar Dutzend Mal hintereinander abgespielt. Verrückt, oder? Ich glaube, das Lied lief mal auf einer Straßenparty in B.. Keine Ahnung. Aber diese Musik ist definitv mit Dir verbunden (Kiss me natürlich auch, wahrscheinlich sogar noch mehr).

Gruß Johann

www.youtube.com/watch?v=bE96fz6BWqk

You're just a memory of a love

That used to mean so much to me