Kiss me 3

02.09.   18:38

Meine liebe Lena,

als ich Deinen Brief las, mußte ich ja schon ziemlich schmunzeln. Hat mir gut gefallen, was Du da so geschrieben hast. Und Du hällst mich ganz schön auf Trapp. Weil eigentlich hatte ich natürlich mal wie­der ganz andere Pläne für den Nachmittag (unter anderem einen Vortrag für morgen vorbereiten), konnte es dann aber doch nicht lassen, Dir rasch zu antworten (ist ja auch spannender als ein Vortrag). Daß Du in meinen Worten gleich wieder eine große Unentschlossenheit siehst, ist natürlich bemerkens­wert, aber sollte mich eigentlich nicht überraschen. Andererseits auch ganz beruhigend, daß ich mir treu geblieben bin :-). Ab der späten Adoleszenz ändert sich der grundlegende Charakter eines Menschen wohl sowieso nicht mehr wesentlich (gute Ausrede). Was mich wirklich erstaunt ist, daß Du anscheinend noch die Beziehungskonstellation meiner Eltern kennst. Wahnsinn. Da komme ich mir wie ein Alzheimer-Kandidat vor …

Besten Dank übrigens, daß Du mir mit Deinem offensichtlich funktionstüchtigeren Gedächtnis nochmal die Eckdaten mitgeteilt hast. April vor 16 Jahren. Das passt. Also, wenn ich mich noch an irgendetwas gut und detailreich erinnere, dann ist es die erste Knutschsession in unserer Küche (am Fenster) und wie Sonja oder die andere Dich nachher dann gegen unseren Willen weggezerrt hat. Und natürlich unsere nächste Begegnung Tage (Wochen?) später (ich hatte anscheinend mal eine blauen Rollkragenpulli). Aber auch die Partys Donnerstag abends (von denen ich dann ein paar Mal ziemlich dicht mit Heinz-Otto nach Hause fuhr; Jule hatte mir ihr Leben dabei aus unverständlichen Gründen anvertraut …), die Nachmit­tage in Deiner Wohnung (Stuhl oder Bett), Frühstück in Deiner Küche, Küssen in Heinz-Otto oder bei uns auf dem Flurboden liegend.

Ich will Dir sagen, warum ich vor einem Treffen etwas zurückschrecke bzw. Respekt habe. Wir kannten uns noch nicht ein paar Stunden, da sind wir schon übereinander hergefallen und in dem ganzen Jahr waren wir uns körperlich immer sehr nah und das war sehr schön und sollte so sein. Anders sind wir uns nie begegnet. Und dann stelle ich mir vor, wir treffen uns nun und sitzen uns einen Abend lang gegen­über und ich darf Dich nicht mehr anfassen, geschweige denn küssen. Eine vollkommen ungewohnte Situation. Könnte komisch sein. Wie soll man sich darauf vorbereiten? Wäre ja denkbar, daß es keinen Grund gibt, Dich nicht genauso küssen zu wollen wie früher. Was ist, wenn sich 15 Jahre Trennung plötz­lich nur noch anfühlen wie ein Monat? Und wenn ich dann überwältigt bin und zum Beispiel eine mental-emotionale Dissoziation bekomme (ich glaube, solche Bezeichnungen gibt es in der Psychologie) mit unabsehbaren Folgen. Ist nur ein Gedankenspiel. Aber ist ja nicht alles planbar. Schließlich ist ja 15 Jahre lang nichts passiert (weder im positiven noch negativen Sinn), daß hat den damaligen Zustand möglich­erweise einfach konserviert und ich bin emotional in dieser Phase stecken geblieben ohne es zu merken (ich phantasiere nur etwas vor mich hin, keine Panik). Jedenfalls sollten wir uns das gut überlegen und das Setting muß stimmen. Am besten wahrscheinlich weder in B. noch in M. oder BB. Und kein Alkohol! Und keine sentimentalen Erinnerungen. Mir wird nämlich schon komisch, wenn ich daran denke. Ich glaube, ich würde das schon meiner Frau sagen, aber darüber müßte ich dann nochmal nach­denken …

Ich habe neulich darüber nachgedacht, warum ich unsere Zeit primär in guter und Du in schlechter Erin­nerung behalten hast – hat allerdings zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt. Ich glaube, es gibt trotzdem eine Gemeinsamkeit, weil so intensiv habe ich das auch nicht mehr erlebt. Aber Kinder haben und zusammen wohnen fördert die Leidenschaft ja auch nicht gerade (natürlich gibt es Ausnahmen).

Zu Deinen Fragen:

1: ich wollte glaube ich nur sagen, daß beides möglich gewesen wäre und in solchen Situationen kleine Dinge viel bewirken können (aber es lohnt sich nicht, länger darüber nachzudenken)

2: nein, wollte ich damit nicht sagen. Sicher kennst Du meine große Leidenschaft für die Stones noch und dieses schön-traurige Lied fiel mir neulich ein und da fand ich es sehr passend. Schließlich warst Du viele Jahre eine schöne Erinnerung.

3: Familienvater ist gut. Bereue ich nicht, auch wenn ich die Kids viel zu selten sehe und ich eigentlich auch immer mindestens drei Kinder haben wollte. Das wird wohl nichts mehr. Mein Bruder hat fünf, das wäre mir dann allerdings ein bißchen viel. Sind zwei tolle Exemplare, wenn auch phasenweise sehr anstrengend (Anna ist gefühlt schon seit 4-5 Jahren in der Pubertät und das heißt auch, es wird noch schlimmer werden ...).

4: wechselnd. Mal zufrieden, mal leicht depressiv. Zum richtig Glücklichsein bin ich glaube ich nicht geschaffen. Zu viel Selbstzweifel etc.

5 (keine Frage): Stimmt, als Mutter stelle ich mir Dich auch nicht vor. Aber ich zweifel nicht, daß Du das super und liebevoll machst. Bleibt es bei einem?

Anbei noch ein aktuelles, aber kleines unscharfes Bild von mir (aber immer noch besser als Fotos im Netz). Im Gegensatz zu Dir verbringe ich meine Tage nicht primär in fensterlosen OPs (oder bist Du noch in Elternzeit?), aber dafür viel vor dem Rechner.

Sei gegrüßt

Johann