I get a kick out of you 3

14.09.   19:24

Meine Liebe,

schön, wieder eine Nachricht von Dir zu erhalten. Ich hatte mich innerlich schon auf die nächste Auszeit von ungefähr 15 Jahren eingestellt … . Ja, ich gebe zu, ich habe Deine Mails tatsächlich ein kleines biß­chen vermisst, so ungern ich es mir auch eingestehe (das hätte mir mal einer vor sechs Wochen progno­stizieren sollen). Von daher können wir die Auszeit auch gerne wieder beenden, zumindest vorläufig und soweit Du Dich für´s Erste erholt hast. Brieffreundschaft ist hierfür natürlich nicht der richtige Ausdruck. Freundschaft mit Dir („Wir sind jetzt gute Freunde“) kann ich mir eigentlich nicht so richtig vorstellen, das wäre doch inakzeptabel, unpassend, ja geradezu beleidigend. Es war etwas anderes und es wird immer etwas anderes sein. Richtig oder gar nicht, denke ich. Aber Korrespondenz, eine spannende Kor­respondenz, das passt vielleicht besser. Ich würde sogar so weit gehen, es als eine aufregende Korres­pondenz zu bezeichnen. Wo das hinführen soll? Keine Ahnung (siehe Anhang). Denke ich erstmal nicht drüber nach (stimmt nicht ganz, ein bißchen doch). Ich glaube, an der Theorie des plötzlichen Schluß­strichs und der konservierten Erinnerung ist was dran. Aber nach unserer physischen Beziehung in der realen Wirklichkeit nun (nach langer, langer Bedenkzeit!) eine Art zweite virtuelle Beziehung in der digi­talen Welt, das wäre ein reizvolles Experiment, eine spannende Alternative, ein Abenteuer, auf das ich durchaus bereit wäre, mich einzulassen. Und es hätte natürlich auch einige handfeste Vorteile – kein Alltagsstress, keine Terminschwierigkeiten, kein Zuviel-Sehen, keine Routine, kein Streit über die tägli­chen banalen Verrichtungen und Pflichten und Absprachen, keine sonstigen Abnutzungserscheinungen .... Eigentlich also die perfekte Art der zweiten Begegnung. Oder sehe ich das zu rosig?

Gut gegen Nordwind ist korrekt. Im Google-Zeitalter bleibt natürlich nichts mehr ein Geheimnis. Ich hatte neulich beim Schreiben so ein Déjà-vu-Erlebnis, bis mir dann dieses Buch eingefallen ist, daß ich vor Jahren mal gelesen habe. Sehr nette Geschichte (ich glaube sogar mit einer Art Happy End – soweit es das bei einer solchen Konstellation überhaupt geben kann, allerdings erst im zweiten Buch. Es nahm dann wohl ein gutes Ende für die Protagonisten, aber weniger für deren jeweilige Lebensabschnittsbe­gleiter :-( ). Habe jetzt nochmal reingeschaut und ein paar Passagen gelesen. Das Setting ist natürlich etwas anders, aber an ein Phantom hatte ich bei Dir auch schon ein paarmal gedacht. Ich schreibe einem Phantom, das ich gar nicht kenne, einem Trugbild, einer Erinnerung, die nichts mit der Realität zu tun hat, einem unbekannten Wesen. Das stimmt aber nicht wirklich, oder? Klar, Du hast Dich vielleicht etwas verändert und ich mich auch, aber das Grundmuster ist noch das Gleiche, dafür erkenne ich Dich in Dei­nem Schreiben zu gut wieder. Und vielleicht kann ich Dich auf diese Weise ja auch neu kennenlernen, wer weiß. Diesmal beginnen wir dann nicht mit taktiler Erkundung, sondern umgekehrt mit Worten …

Im Gegensatz zu den Protagonisten des Buches habe ich eine zwar inzwischen zugegeben etwas ver­schwommene, aber doch noch präsente und schöne Vorstellung von Dir und muß nicht immer Sorge haben, daß die erste wirkliche Begegnung ein Schock und ernüchternd werden könnte (bei uns wäre das dann aber vielleicht so bei einem Wiedersehen, sollte es jemals stattfinden); muß nicht dem ersten Kuß und dem ersten Sex entgegenfiebern oder -bangen. Ich finde diese Ausgangslage eigentlich entspannter. Obwohl es ein paar Parallelen zum Buch gibt, ist das eigentlich Spannende doch, daß es auch sehr anders ist und wahrscheinlich auch einen anderen Verlauf nehmen wird. Also, wenn wir so weitermachen und uns ein bißchen Mühe geben, können wir noch berühmt werden ...

Du solltest das Buch übrigens wirklich mal lesen, amüsante und leichte Lektüre. Dafür brauchst Du bestimmt nicht bis Weihnachten. Und was ich Dir auch empfehlen kann, ist „Lieben“ von Karl Ove Knausgard, meine Entdeckung dieses Sommers, obwohl inzwischen wirklich kein Geheimtipp mehr. Hier brauchst Du allerdings einen etwas längeren Atem, es sind 763 Seiten … Lohnen sich aber. Und alles aus männlicher Perspektive geschrieben. Verspricht also tiefe Einblicke für die Leserin. Und da Du anschei­nend Istanbul auch gerne magst, hätte ich da noch was Schönes, aber das kannst Du dann wahrscheinlich erst in Angriff nehmen, wenn Dein Sohn mal ausgezogen ist (auch fast 600 Seiten).

Es freut mich jedenfalls sehr, zu hören, daß man den Stones eine angemessene Wert­schätzung entgegenbringt. Und daß Du Deine diesbezüglichen Wissenslücken zu schließen gewillt bist, muß ich auch sehr loben. Daß gerade in dieser eher beschaulichen Gegend ein Konzert stattfand, war mir tatsächlich nicht bekannt – die Band begleitet mich zwar nun seit geschätzten 34 Jahren, aber über enzyklopädisches Wissen verfüge ich nicht und bei „Wetten dass?“ wollte ich auch nie auftreten (Anna kann allerdings die Geburtsdaten aller Bandmitglieder auswendig, ist aber ein noch größerer Meat-Loaf-Fan, vielleicht sollte mir das zu denken geben). Ich hoffe, daß ich bei den Kids durch eine enstspre­chende Beschallung in einer sensiblen Phase nicht eine nie wieder gutzumachende und bleibende musi­kalische Prägung erzeuge, die sie später belasten wird, aber solange man die Kleinen noch beeinflussen kann, versucht man es doch, denke ich. Bald ist es eh zu spät …

Ich wünsche Dir eine stress- und dienstarme Woche und nicht zu viele Begegnungen mit roten Enten, rollenden Steinen und kußfreudigen Liedern.

Dein ewiger Ex