06.10. 20:06
Lieber Johann,
wahrscheinlich wäre es wirklich nicht verkehrt, diese Mail einfach so stehen zu lassen und den Reset-Knopf zu drücken. Aber ein paar Sachen muss ich doch noch los werden, auch wenn das wieder die Gefahr birgt, dass es zu Fehlinterpretationen und Verstimmungen kommt.
Letzte Woche hätte ich schon fast Lust gehabt, zum Hörer zu greifen, um diese Fehlinterpretationen zu vermeiden. Denn der Ton, von dem Du gesprochen hast, steht doch nicht wirklich im Text, sondern wird vom Leser in die Worte interpretiert. Man kann sehr viel aus einem einzigen Satz raus lesen, je nachdem, wie man ihn betont und mit welcher Erwartungshaltung man heran geht. Und bei diesem Punkt habe ich das Gefühl, dass es bei unserer Kommunikation gerne mal Probleme gibt...
Ich war Samstag Nacht vor einer Woche nicht beleidigt und eingeschnappt. Ich hatte sogar gute Laune, als ich die Mail um 0:40 Uhr abgeschickt habe und wollte Dich eigentlich nur etwas ärgern, weil Du ja selbst ständig geschrieben hast, dass Du Dir so vergesslich und wie ein Alzheimer-Patient vorkämst. Und für lange Sätze war keine Zeit. Etwas enttäuscht war ich schon, das gebe ich zu, denn man schließt ja doch gerne von sich auf andere. Und sicherlich trifft da auch irgendwie deine Ausführung zu, dass es damit dann auch ein Test war, welche Bedeutung ich für Dich hatte. Aber meine Nachfragen vorher waren tatsächlich auch ehrliches Interesse, welche Erinnerungen Du noch so hast, denn selbst ich kann mir vorstellen, dass Leute unterschiedliche Dinge wichtig finden und sich daher andere Dinge merken. Du hast Dir von unserem ersten Abend zum Beispiel mehr gemerkt als ich. Ich hätte nicht mehr gewusst, dass Mia uns auseinander gezerrt hat, das kam erst wieder vor mein geistiges Auge, als Du davon geschrieben hast. Und ich fand es spannend, dass Du Dir direkt vorstellen konntest, wie ich mich beim Schreiben aufrege. Ich weiss doch auch nicht mehr genau, wie ich so vor 15 Jahren drauf war bzw. auf Dich gewirkt haben könnte. Die Andeutungen, die ich aus Deinen Mails rauslesen konnte, fand ich daher sehr faszinierend. Erst als Du gar nicht auf die Nachfragen eingegangen bist, habe ich mich dann gefragt, ob Du überhaupt noch irgendetwas über meinen Background weisst und mich da ein bisschen festgebissen. Aber sowas ist wahrscheinlich eh schwer zu beantworten, jetzt tatsächlich auch egal und ich werde mir Mühe geben, da nicht mehr großartig nachzufragen. Wahrscheinlich hast Du Dich mit jeder weiteren Bemerkung über das Thema mehr bedrängt gefühlt.
Erst Sonntag Nachmittag war ich dann auch angenervt und sauer. Ich dachte mir, dass es doch nicht wahr sein darf, dass Du Dich über meine letzte Mail schon wieder aufregen musst. Ich will doch nicht von Dir hören, wie alt genau meine Schwestern sind und dass Du dann Dir genau herleiten sollst, wie alt meine Mutter bei meiner Geburt war. Das war doch keine kniffelige Mathe-Aufgabe. Ich war enttäuscht und auch verärgert, dass dieser nette Ping-Pong-Email-Dialog durch so etwas Blödes jäh zu Ende gegangen war. Daher musste ich dann erst mal tief Luft holen und Auszeit nehmen, den restlichen Sonntag stand ich ziemlich unter Strom. Als ich Deine Mail das erste Mal gelesen habe, hatte ich das Gefühl, dass ich Dich wütend schnauzend vor mir stehen sehe. Und ich hätte gerne zurück geschnauzt. Und das erinnerte mich dann sehr an Teenager, die umeinander rumscharwenzeln und jedes Wort in die Waagschale werfen, um herauszufinden, wie sehr der andere einen mag und alles direkt gegen sich beziehen und dann zickig reagieren (ich weiss nicht, ob Du diese Assoziation nachvollziehen kannst, auf mich traf es da zu...) Am Abend mit etwas Abstand habe ich mich dann gefragt, ob die Mail nicht doch eher ruhig zu lesen sei.
"wie konnte das passieren? ….“ Diesen Absatz hätte ich doch genauso gut schreiben können. Aber mich irritiert und ängstigt diese Entwicklung auch. Du hast mich damals zu extremen Gefühlen gebracht, im Positiven wie auch im Negativen. (Der Liedtext von „Shoot him down“ trifft es schon sehr gut, alle Achtung … :-) Ich mag das Lied, allerdings finde ich es im Original besser als im Stelar-Remix) Ich habe es ehrlich gesagt in den letzten 15 Jahren nicht geschafft, diese Geschichte ganz hinter mir zu lassen. Wahrscheinlich waren die Emotionen, die Enttäuschung und das Unverständnis bei mir damals zu groß. Um es mit Deinen Worten zu sagen: Alles, was mit Dir zu tun hat, berührt mich irgendwie. Das ist auch der Grund, warum ich mich vor 8 Jahren nicht gemeldet habe und auch nicht alles unternommen habe, um Dich vor 5 Jahren zu kontaktieren. Ich wollte mögliche Gefühlsverwirrungen bei mir vermeiden. Und ich glaube ehrlich gesagt auch, dass mein Mann so etwas zumindest im tiefsten Inneren geahnt hat und das ein Grund war, warum er aus dieser Postkarte sofort den beschriebenen Schluss gezogen hat. Wahrscheinlich ist mir alles aus dem Gesicht gefallen, als mir damals klar wurde, von wem diese Karte stammt und er wollte jegliches Grübeln meinerseits direkt verhindern.
Es gab in den letzten 15 Jahren natürlich auch niemanden, der meine Thesen in Frage gestellt hätte. Somit halte ich wahrscheinlich manche Vermutungen mittlerweile wirklich für die Realität und nun hast Du vieles davon volle Breitseite abbekommen, wenn die Wut mal wieder aufgeflammt ist.
So etwas wie damals möchte ich auf keinen Fall noch ein zweites Mal mitmachen, auch nicht auf digitaler Ebene. Daher bin ich wahrscheinlich bei manchen Deiner Aussagen auch direkt so verstimmt und muss dagegen halten. Alle meine Fragen wie „was machen wir hier eigentlich?“ „brauchst Du eine Scheinwelt?“ stelle ich aber doch immer auch an mich. Eigentlich brauche und will ich keine Scheinwelt, digitale Beziehung oder wie man das nennen möchte. Aber warum ist es dann so, dass ich noch nie so oft wie in den letzten 6-7 Wochen meine Mails gecheckt habe und auch etwas aufgeregt bin, wenn ich etwas von Dir im Posteingang finde? Auf der einen Seite bedeutet mir diese Kommunikation gerade sehr viel, auf der anderen Seite macht sie mir ein schlechtes Gewissen meiner Familie gegenüber – eben wegen der Qualität dieses Austauschs. Als ich Dich kontaktiert habe, hatte ich vielleicht wirklich die Hoffnung, dass 15 Jahre jetzt ausreichen würden, um einfach hallo sagen zu können. Aber es scheint trotzdem etwas anderes zu sein, ob es ein Klassenkamerad ist, den man lange nicht mehr gesprochen hat, oder ein Ex. Oft würde ich Dich tatsächlich lieber in den Arm nehmen und feste drücken, als lange Sätze zu schreiben oder mit Dir zu streiten.
> Aber was glaubst Du eigentlich, warum ich soviel Zeit damit verbringe, Dir zu schreiben? Weil Du mir gleichgültig bist? < Einen Kommentar dazu habe ich Dir ja schon geschrieben, dafür hätte ich Dich auch drücken können… Deine Mail fand ich gar nicht so schlimm im Tonfall, war eher erleichtert, wieder etwas von Dir zu lesen... :-) verrückt ist das alles.
So, jetzt ist es doch eine lange Email geworden und ich habe den Vormittag hauptsächlich damit verbracht, mir (hoffentlich) wohl geformte Sätze auszudenken, anstatt wichtige andere Dinge zu erledigen… Ich hoffe, ich konnte mich verständlich und im besten Fall nachvollziehbar mitteilen. Du musst aber dazu auch keinen Kommentar abgeben. Mir würden kurze, nette Mails wie diese Woche reichen... :-)
Und jetzt ist es doch Abend geworden, bis ich dazu komme, sie los zu schicken, weil ich noch die ganze Zeit nach schlecht formulierten Sätzen gesucht habe…naja, ich werde es von Dir erfahren. Eigentlich ist diese Mail wirklich nur erklärend gemeint und nicht vorwerfend oder böse oder eingeschnappt… nur schon mal vorweg gesagt...
Anbei noch ein Lied zur allgemeinen Erheiterung, das auch schon wieder eher aus der elektronischen Ecke kommt. Dabei gehöre ich eigentlich immer noch zur Gitarren-Fraktion! Aber es passt ganz gut zum Thema und ich finde es ganz witzig. Ich hoffe, die Datei funktioniert, denn das Lied war nirgendwo im Netz zu finden ...
(Nachlader-Kommunikationsproblem)
Liebe Grüße
Deine Lena
06.10. 23:32
Liebe Lena,
vielen Dank für diese schöne Mail - und alles perfekt formuliert, mach Dir keine Sorgen J. Ich mußte mal wieder etwas schmunzeln, weil ich Dir was Ähnliches schreiben wollte. Am Samstag abend war ich nämlich froh, keine Nummer von Dir zu haben - sonst hätte ich bestimmt angerufen. Ich hatte so große Lust, Deine Stimme zu hören. Gut, daß ich es nicht tun konnte. Und jetzt Gute Nacht, ich muß ins Bett. Musik höre ich morgen.
Schlaf gut
Johann