08.11. 01:08
Liebe Lena,
ich hoffe, Du bist wieder einigermaßen nüchtern, wenn Du das hier ließt. Obwohl – ein leichter perzeptiver Nebel wäre vielleicht doch besser ... Während Du Dich auf einer Party wild austobst oder zumindest die richtige Musik hörst, habe ich es mir also wie geplant mit einem Glas Wein vor dem Rechner gemütlich gemacht. Da ich zu Hause selten allein bin, genieße ich solche Stunden durchaus sehr. Anna glotzt mit einer Freundin im Wohnzimmer, Artur pennt bei einem Freund, es ist friedlich und entspannte Musik säuselt im Hintergrund. Alles spricht also für einen gelungenen Abend. Habe Deine lange Mail erneut gelesen, weil ich da ja noch auf Einiges antworten muß (wie auf andere Mails auch, ich verlier da manchmal den Überblick).
Interessant, daß Dich die Flurszene auch nochmal beschäftigt hat. Ich dachte, wir seien da etwas alkoholisiert von einer Party gekommen und hätten es nicht mehr bis ins Zimmer geschafft, aber vielleicht stimmt auch Deine Version. Daß ich so unhöflich war, Dich ewig warten zu lassen, tut mir natürlich noch im Nachhinein leid; so ein Verhalten ist eigentlich gar nicht meine Art. Mir ist es immer sehr unangenehm, anderen in irgendeiner Form (tatsächlich oder vermeintlich) zur Last zu fallen und genauso unangenehm, andere warten zu lassen, egal ob im beruflichen oder privaten Umfeld. Genauso schrecklich finde ich das permanente Telefonieren, Gesimse oder Gewhatsappe, während man sich mit jemandem trifft oder unterhält. Sehr unhöflich. Ich kann es mir nur so erklären, daß ich keine andere Wahl hatte. Wenn Constanze mal in Fahrt kam, war sie schwer zu stoppen. Und was sollte ich machen, konnte ja schlecht einfach auflegen. Mußte sie also reden lassen. Angenehm fand ich es sicher nicht, zu wissen, daß Du mich besuchst und ich Dich dann rumwarten lasse (auch noch mit Tom). Und ich hätte das umgekehrt natürlich auch ätzend gefunden. Ich weiß, daß die Situation nicht einfach war. Andererseits war ich an Constanzes Geburtstag mit Dir auf einer Lesung, anstatt den Abend mit ihr zu verbringen, was mir ebenfalls ein schlechtes Gewissen bereitet hat, ist schließlich auch keine Gentleman-Art. Ich vermute, in einer solchen Konstellation ist das Gentleman-Sein grundsätzlich schwierig. Ein Gentleman würde es erst gar nicht soweit kommen lassen …
Einen Spaziergang durchs S. finde ich ja eigentlich erstmal ziemlich unverfänglich, aber die Hotelzimmerszene hat mich natürlich auch nachdenklich gemacht. Du mußt den Finger auch direkt in die Wunde legen. Also, ich erinnere mich an nicht mehr als ich geschrieben habe, aber wie kann man sich morgens in einem Hotelzimmer verabschieden, ohne die Nacht zusammen verbracht zu haben? Tja, ich weiß es auch nicht. Vielleicht war mein träumendes Hirn da schon weiter oder hat Verdrängtes visualisiert.
Hast du die Lippen mir wundgeküsst,
So küsse sie wieder heil,
Und wenn du bis Abend nicht fertig bist,
So hat es auch keine Eil.
Du hast ja noch die ganze Nacht,
Du Herzallerliebste mein!
Man kann in solch einer ganzen Nacht
Viel küssen und selig sein. (H.H.)
Ich gebe mir ja Mühe, verbotene Empfindungen effektiv zu unterdrücken, aber manchmal überkommt mich trotzdem so ein paroxysmales Verlangen, Dich anzufassen, Dich zu küssen, mit Dir zu schlafen. Das ganze Programm eben. Oder ich bemerke bei mir etwas wie eine Pawlow´sche Konditionierung, wenn ich Deinen Namen lese: statt Speichelfluß beim Erklingen der Glocke erotische Gefühle beim Lesen der beiden Worte (am stärksten: Lena), auch wenn das Objekt der Begierde (Hundefutter, Person) gar nicht präsent ist. Ist es vielleicht sogar eine Art Fetischismus (ein unbelebter Gegenstand als Stimulus der Erregung? Aber das geht wahrscheinlich zu weit). Schlimme Sachen alles, ich weiß. Aber man kann sich ja nicht immer hundertprozentig kontrollieren. Wir haben uns körperlich eben nie richtig entwöhnt. Da lauert wohl Verborgenes tief im Hirn (limbisches System, Thalamus, Hippocampus oder gar Amygdala?) und versucht, sich bei erstbester Gelegenheit einzumischen und ins Bewußtsein zu mogeln. Eruptionen kleiner Vulkane (unter der erkalteten Oberfläche brodelt still das Magma ...). Ich gehe natürlich beim ersten Anzeichen sofort energisch dagegen vor, um Schlimmeres zu verhindern. Es geht dann auch wieder vorbei, also kein Grund zu Beunruhigung oder gar Panik. Wir höheren Primaten sind halt komplexere Wesen als es für unser Alltagsleben zu wünschen wäre. Andererseits bin ich nach wie vor der Überzeugung, daß man auch mal was Verbotenes tun (in diesem Fall denken) darf. Wir sind doch schon oft genug regelkonform. Ich finde solche kleinen Schwächen deshalb nicht so fürchterlich. Man ist halt noch am Leben …
Aber es stimmt schon, ganz harmlos ist die Schreiberei nicht. Sie ist eben auch real, nur eine andere Welt und natürlich versuche ich, Beides auseinanderzuhalten. Auch mich plagt dann schon mal ein schlechtes Gewissen. Als Du Dich im August gemeldet hast, bestand bei mir allenfalls eine geringe diesbezügliche Sorge; ich fühlte mich im Grunde sicher. Schließlich war klar, daß wir uns so bald weder sehen noch hören würden, da konnte doch eigentlich nicht viel passieren. Aber ich muß zugeben, daß ich mich da etwas geirrt und die Situation falsch eingeschätzt habe. Es kommt anscheinend nicht darauf an, ob man redet oder schreibt. Ist ja irgendwie auch das Gleiche. Man muß sich nicht direkt begegnen, es funktioniert auch mit Mails. Zumindest, wenn man sich schon vorher kannte und einen innigeren Umgang miteinander hatte. Das ist wohl die Voraussetzung. Wenn man mit den Worten niemanden verbindet, ist es sicher harmloser (aber siehe Nordwind, falls diese Story einen realen Hintergrund hatte). Von daher würde ich nicht sagen, daß ich unbekümmert bin, aber ich habe immer noch das Gefühl, daß ich alles kontrollieren kann (kleine Ausnahmen siehe oben) und keine ernsthafte Gefahr besteht. Oder ist das naiv? Jedenfalls mag ich es gerne, Dir zu schreiben. Dann muß ich die Nebenwirkungen in Kauf nehmen.
Noch zu Deiner letzten Frage: nein, Nacktfotos gehören nicht zum festen Repertoire meiner Affären (ich habe üblicherweise keine Affären, wie Du ja weißt) oder festen Beziehungen / Ehen. Aber ganz falsch liegst Du nun auch wieder nicht (sonst wäre mir das gar nicht in den Sinn gekommen): ich hatte tatsächlich mal mit einer Freundin (lange vor unserer Zeit) solche Aufnahmen gemacht und sie kürzlich beim Umzug wiedergefunden. Es waren wirklich schöne Bilder, was vielleicht auch erst im Abstand so vieler Jahre deutlich wurde. Und ich war dann ganz angetan davon und glücklich, sowas gemacht zu haben. Ich bin letztlich immer sehr empfänglich für gelungene Bilder ... Und es vergeht doch alles so schnell, auch die körperliche Frische. Diese Schönheit festzuhalten, finde ich sehr legitim, wenn nicht sogar erstrebenswert. Aber jetzt frage ich mich, ob ich der Dame die Bilder mal mailen oder besser vorenthalten sollte. Wird sie sich mit Mitte Vierzig über die Fotos einer Zwanzigjährigen freuen oder hat das eher Frustration zur Folge? Würdest Du Dich freuen? Im Anhang ein anderes kleines Experiment mit dem Material, was mir zur Verfügung steht.
Meine Liebe, es ist spät und der Brief eh schon zu lang. Vermutlich hätte ich mich kürzer fassen oder bestimmte Passagen ganz löschen sollen. Aber Du hast ja gefragt, da wollte ich auch ehrlich antworten. Ich hoffe, ich konnte etwas Licht in´s Dunkel bringen ohne allzuviel neue Fragen aufzuwerfen und wünsche Dir einen schönen Sonntag. Genieße das Hoch …
Dein Johann
PS: doch noch eine Frage meinerseits. Was hast Du zum Teufel acht Jahre in D. gemacht?
08.11. 12:46
Lieber Johann,
danke für die lange Mail, eine Antwort darauf schaffe ich aber wahrscheinlich frühestens morgen. So betrunken war ich gestern zwar nicht, aber ich muss sie mir dann doch nochmal heute in Ruhe durchlesen...
Gerade komme ich von einem Kinderkonzert, der Karneval der Tiere wurde gegeben. Die Musik finde ich immer wieder sehr schön, Linus hat es glücklicherweise auch gefallen. Kennst Du die Musik?
Und hier noch eine Frage, die ich mir schon öfters mal gestellt habe, aber bisher nicht den richtigen Ansprechpartner hatte: ist es für Linkshänder eigentlich schwieriger, Querflöte zu lernen? Ich glaube ja, dass es Linkshänder schwerer haben, Geige zu lernen, weil es die nicht "umgedreht" gibt wie bei Gitarren.
Gab es gestern Rot- oder Weißwein ...?
Schönen Sonntag
Lena
08.11. 15:40
Rotwein. Karneval der Tiere haben unsere Beiden auch öfters gesehen bzw. gehört (ich war leider nie dabei), ist allerdings schon ein paar Jahre her. Schöne Musik, zumindest größtenteils, finde ich auch. Ich dachte, Du magst eher klassische Sachen gar nicht so sehr. Ich war mit den Beiden heute im Haus der Geschichte, ist ja hier alles um die Ecke.
Linkshänder haben mit manchen Dingen etwas mehr Schwierigkeiten, aber Querflöte und Blasinstrumente generell gehören meines Wissens und meiner Erfahrung nach nicht dazu. Man setzt ja beide Hände ziemlich ähnlich ein, dabei spielt die Seite eigentlich keine Rolle. Obwohl ich mir jetzt z.B. nicht vorstellen kann, die Querflöte in die andere Richtung, also nach links zeigend, zu spielen. Das ist aber sicher nur Übungs- bzw. Gewöhnungssache.
08.11. 20:06
Rotwein. Sehr sympathisch. Gestern gab es leider nur Prosecco, Weißwein und Bier... Naja, wahrscheinlich hat es deshalb nicht überhand genommen.
Warum sollte ich denn keine Klassik mögen? Und ich hatte mich sogar schon mal gefragt, ob wir nicht mal beim uni-Orchester damals zusammen gewesen sind. Außerdem habe ich von der Musikschule den Karneval der Tiere sogar selbst mal vor über 20 Jahren mit aufgeführt.
08.11. 20:49
Weil Du mal bezüglich Francesco Tristano geschrieben hast: "Sogar Bach haben die so hinbekommen, dass es mir mal gefallen hat ...". Vielleicht habe ich da unzulässig verallgemeinert.
08.11. 20:54
Ich mag Bach einfach nicht so besonders, da kann man wenig Gefühl reinlegen und es erinnert mich meist eher an Fingerübungen.
08.11. 21:22
Auch z.B. die Cello-Suiten? www.youtube.com/watch?v=mGQLXRTl3Z0
08.11. 22:56
Klingt schon etwas nach Fingerübung, oder…? ;-)
Ich meine vor allem die Klavier Sachen. Die sind ja eigentlich für Cembalo komponiert worden und man kann nicht viel mit Lautstärke in das Stück reinlegen. Bach ist einfach nicht so mein Ding, meistens einfach zu mechanisch für meinen Geschmack. Auch wenn es bestimmt ganz nette Sachen gibt, die ich nicht kenne. Tristano hat Bach etwas mehr Leben eingehaucht, indem er es nicht so mechanisch gespielt hat.