20.11. 22:06
Liebe Lena,
jetzt habe ich mir Deine lange Mail noch mal vorgeknöpft und es mir mit etwas Wein und Musik (Then-I-kissed-her-Endlosschleife) gemütlich gemacht, um zu versuchen, darauf zu antworten. Etwas Zeit werde ich brauchen. Eigentlich sollte ich jetzt auf dem Weg nach K. sein; wir haben die Reise aber auf morgen vormittag verschoben – ich bin von recht starken Kopfschmerzen geplagt und fühle mich nach wie vor unfit – da sind 300 km Autobahn in Dunkelheit und Regen wohl nicht so eine gute Idee. Dafür habe ich jetzt Zeit zum Schreiben und werde die Gelegenheit nutzen. Gleich vorneweg: vieles von dem, was Du schreibst (aber nicht Alles!), stimmt selbstverständlich.
Du hast mich eben ziemlich durcheinander gebracht und das spiegelt sich in den Mails wieder. Sie sind so durcheinander und widersprüchlich wie ich auch. Balzverhalten, erotische Anspielungen, Flirten, Rumspielen – ja, auch das. Macht mir Spaß und ich mag Deinen Humor, mit dem Du darauf reagierst – manchmal vorhersehbar, manchmal nicht. Aber ich meine es auch durchaus ernst. Wenn ich Dir schreibe oder Deine Briefe lese, fühle ich mich Dir öfters sehr nahe – Dir oder der Projektionsfläche, die Du darstellst. Und dann kommt es mir plötzlich wieder so vor, als kommuniziere ich mit einer Fata Morgana – sende Botschaften in den virtuellen Raum in ein Nichts. Versteh mich nicht falsch: ich mag diese Kommunikation. Nur manchmal wünsche ich mir dann doch Deine physische Präsenz. Ich würde Dich gerne mal wieder lachen oder reden hören, Dein Gesicht und die Mimik sehen – halt alles, was Briefe nicht bieten. Es ist bemerkenswert und manchmal versuche ich zu verstehen, was da los ist.
Wenn ich dann ganz ehrlich zu mir bin (was ich ja gerne mal mehr oder weniger erfolgreich zu vermeiden suche), dann kann ich so viele Worte, lange und kurze Mails, manche nett, manche verstimmt, eigentlich auch in einem einzigen Satz zusammenfassen: Ich habe mich einfach mal wieder ein kleines bißchen in Dich verliebt (Betonung auf „wieder“ und nicht auf „kleines bißchen“). Vielleicht auch ein kleines bißchen mehr als nur ein kleines bißchen. Das ist zumindest die einzig mögliche Interpretation, die mein Verhalten und alles Andere einigermaßen widerspruchslos erklärt. Warum auch nicht? Was einmal passiert, kann auch ein zweites Mal passieren. Aber ich fühle mich hieran nicht wirklich schuldig. Es ist so über mich gekommen und ich wußte nicht wie mir geschah und konnte mich nicht richtig wehren. Ich war glaube ich ziemlich machtlos und vollkommen unvorbereitet. Hatte einfach nicht damit gerechnet. Wie gesagt, ich hab die Situation falsch eingeschätzt. Und eventuell ist auch alles nur Einbildung. Mußte in den letzten Monaten öfters mal an die Küchen-Szene denken: Du bist vor 15 Jahren so plötzlich und unerwartet in mein Leben geschneit und warst dann gleich so präsent. Und jetzt das Gleiche. Und wieder so allgegenwärtig. Vielleicht ein Kennzeichen von Dir. Mir kommt es manchmal noch immer ganz unwirklich vor, was durch dieses virtuelle Element ja noch verstärkt wird.
Trotzdem bin ich von dieser Emotionalität nicht geschockt, sondern genieße sie durchaus. Du kannst mich damit glücklich machen. Kann mich richtig daran berauschen – vielleicht auch, weil es sich so schön im digitalen Raum abspielt und mir deshalb noch immer nicht so gefährlich vorkommt – naiv oder nicht. Natürlich macht es das Leben nicht unbedingt einfacher. Ich will die dadurch bedingten Komplikationen nicht kleinreden (ohne mich jetzt in Details zu verlieren …). Ich wünsche also, daß dieses Gefühl noch lange anhält und hoffe gleichzeitig, daß es möglichst bald vorübergeht ...
Wenn wir alle wirklich ehrlich zueinander sind, wissen wir doch sowieso, daß es auf der Welt nicht nur den einen Menschen gibt, zudem wir uns hingezogen fühlen. Es ist sogar fraglich, ob wir an der einzig großen Liebe als Ideal festhalten sollten, es führt zu viel Heuchelei und Betrug. Das soll nicht heißen, daß man permanent von Einem zum Andern laufen soll. Natürlich sind die große Liebe, die feste Beziehung und die Familie sehr wichtig. Wir werden aber immer den Konflikt aushalten müssen, daß wir uns einerseits nach Geborgenheit und Konstanz und Verlässlichkeit sehnen und anderseits nach dem aufregenden Leben, nach Abwechslung und Abenteuer. Wie man damit umgeht, ist bei jedem verschieden und hängt natürlich auch von den Gelegenheiten ab, die sich bieten …. Es gibt so viele Menschen, die sich in jemanden anderen verlieben, auch wenn sie in langen und stabilen und glücklichen Ehen leben. Mir fallen da gerade spontan Helmut Schmidt und Reich-Ranicki ein. Schmidt kannte seine Loki seit dem Grundschulalter, sie waren sicher mehr als 60 Jahre verheiratet, trotzdem hatte er zwischendrin (mindestens) eine Geliebte. Und Ranicki genauso, seine Ehe mit Teofila ging dadurch auch nicht in die Brüche. Es ist offensichtlich etwas sehr Menschliches. Und das Leben bietet manchmal die eine oder andere Überraschung – das ist doch auch großartig. Ich war diesbezüglich sicher nicht immer ein Engel. Aber auch kein nur rücksichtloser Draufgänger oder Egoist. Daß Du Dich über mein Liebesleben unzureichend informiert fühlst, liegt vielleicht auch daran, daß es nicht sehr charmant gewesen wäre, der jungen Freundin davon ausschweifend zu berichten (aber um neuen Spekulationen direkt entgegenzutreten: ich vermute, es war absolut durchschnittlich mit den üblichen Höhen und Tiefen). Der Tipp mit den Nacktfotos ist übrigens gut, so werde ich es halten – Danke für die weibliche Perspektive.
Man sollte bezüglich solch emotionaler Ausschläge oder Eruptionen vielleicht etwas entpannter sein. Ich würde so etwas Überraschendes und Ungeplantes wie diese neuerliche Begegnung mit Dir nicht als „abwartendes Offenhalten“ bezeichnen – dann schon eher Schicksal (glaube ich aber nicht wirklich dran). Und meine Passivität darfst Du nun auch nicht verallgemeinern auf alle Lebensbereiche und Situationen – ich schlittere nun nicht in Alles so herein und kann durchaus auch sehr aktiv sein, wenn ich etwas wirklich will. Von Constanze mußte ich mich aktiv trennen und das war nicht leicht, wie Du Dir denken kannst. Aber diese philosophischen Betrachtungen über die richtigen und falschen Lebensentscheidungen, Zufall und Schicksal etc. sollten wir vielleicht tatsächlich mal mündlich erörtern, falls es sich ergeben sollte – sonst werde ich nie fertig und meine Monologe langweilen Dich.
Daß ich mich leicht wieder in Dich verlieben kann, wußte ich natürlich auch schon in N. Das war auch der Grund für diese kryptische Prophezeihung, wir werden uns nicht ewig in dieser Form schreiben. Ich ahnte, daß uns irgendwann alles um die Ohren fliegen wird und dann wieder Funkstille herrscht. Ich wünsche es mir aber nicht und bin soweit erstmal guter Dinge :-)
Gute Nacht (und grübel jetzt nicht zu viel)
Johann