Re: Sehnsucht IV

23.11.   22:11

Hallo Johann,

heute Morgen lief als erstes Lied, das ich wahrgenommen habe „Maria“ von Blondie, gerade die Sport­freunde Stiller mit Applaus, Applaus. Beste Voraussetzungen, um Dir heute zu antworten… Dabei weiss ich gerade nicht wirklich, was ich mit Dir machen soll… wie sollte ich über Deine Mail nicht lange grü­beln?

Du hast es jedenfalls geschickt eingefädelt – falls ich mich über irgendetwas aufrege, dann kannst Du ja einfach sagen, dass die Kopfschmerzen zu stark waren, um klarer formulieren zu können…

Du schreibst, dass vieles von dem, was ich geschrieben habe, stimmt, aber nicht alles. Was denn eigent­lich nicht..? Ok, vielleicht, dass Du Dich aktiv von Constanze getrennt hast und nicht sie von Dir.

Ich versuche mal, Deine Mail zusammenzufassen: Du bist durcheinander, fühlst Dich ein bisschen ver­liebt, würdest mich zwar gerne mal live erleben, aber eigentlich ist dieses Virtuelle auch ganz gut, da man sich da doch irgendwie sicher fühlen kann. Man kann in diesem virtuellen Raum das schöne Gefühl des Verliebtseins, das ja im wahren Leben vielleicht schon etwas länger her ist, wieder mal ganz gut genie­ßen, es bleibt dadurch aber trotzdem so schön unwirklich, so dass keine Gefahr für das beschauliche Leben, in das man sich eingerichtet hat, entsteht. Und natürlich bist Du total unschuldig da rein geraten, es ist einfach nur so passiert... Du warst nicht immer ein Engel, solche Emotionalität schockt Dich nicht und wir sollten entspannter mit Eruptionen umgehen – also schätze ich Dich anscheinend richtig ein? Ich weiss nur nicht genau, was mir das alles sagen soll. Vielleicht: Schreib mir doch weiter wie bisher, es lässt sich so schön daran berauschen und irgendwann geht sowieso alles hoch?

Ich habe schon weiterhin das Gefühl, dass Du auch nicht genau weisst, was Du mit mir bzw. dieser Situa­tion jetzt anfangen sollst. Auf der einen Seite hast Du mich beeindruckt, dass Du das mit dem etwas Ver­liebt sein zugibst. Auf der anderen Seite windest Du Dich danach wieder so sehr und relativierst alles, so dass ich keine Ahnung habe, was das jetzt alles eigentlich für Dich bedeutet.  Genauso schickst Du mir ein eigentlich ziemlich eindeutiges „Open“, sagst aber, dass es nur um die Musik ging. Auch bei allen ande­ren Liedtexten spielst Du anscheinend ein bisschen mit mir und lässt mich verwirrt zurück.

Über die Auslassungen über die einzig wahre Liebe etc musste ich mich tatsächlich auch ärgern. Wenn Schmidt und Reich-Ranicki eine Geliebte hatten, so hatte das wahrscheinlich nicht sehr viel mit Ver­liebtsein zu tun. Willst Du mir damit wirklich sagen, dass Männer sich eben manchmal zwischendurch verlieben, die Abwechslung brauchen und dann wieder als ein besserer, entspannterer Mann zu der Ehefrau zurückkommen? Hast Du Dir eigentlich irgendwann schon mal überlegt, wie das die Ehefrau oder auch die Geliebte finden? Auch wenn bestimmt alle mal in dem Konflikt sind, langjährige Beziehung oder neues Abenteuer, es ist doch trotzdem ziemlich verletztend für die anderen drumherum und klingt schon sehr egoistisch. Man darf dabei schon zumindest ein schlechtes Gewissen haben, finde ich. Wie würdest Du Dich umgekehrt fühlen, wenn Deine Frau Dir diese Sätze an den Kopf werfen würde? "Ach Schatz, sei doch mal entspannter, ich bin es doch auch – ich hatte da halt so eine kleine Gefühlseruption, gönne mir doch auch mal was. Und jetzt bin ich wieder viel lockerer, weil ich mich etwas austoben konnte und davon hast Du ja auch was …“

Außerdem waren das doch Worte, die Du eher tröstend an Deine Frau richten könntest, wenn sie was erfahren sollte. Für mich ist das noch weniger schmeichelhaft, (auch wenn ja bisher nicht viel passiert ist) wenn Du schreibst, dass das schon mal passieren kann, aber die großen tollen Männer wie Schmidt und Reich-Ranicki ihre Ehefrauen ja schließlich dann ja auch nicht verlassen haben und so ein Verhalten eben einfach menschlich ist.

Aber irgendwie passt diese relaxte Einstellung dann auch wieder nicht, weil Du ja schon sehr bemüht bist, alles schön im virtuellen Raum stehen zu lassen. Alles andere scheint selbst Dir dann doch zu heikel zu sein ....

> Es ist sogar fraglich, ob wir an der einzig großen Liebe als Ideal festhalten sollten < Ich glaube auch nicht, dass es nur eine einzige große Liebe gibt und ich glaube auch nicht an Schicksal, sondern nur an Zufälle (Albert Camus lässt grüßen). Es wird mehrere geben, mit denen es sich sogar ein Leben lang gut aushalten lässt, je nachdem, wen man per Zufall von diesen Seelenverwandten trifft. Meine Eltern haben sich so schlecht verstanden, dass ich es sogar gut gefunden hätte, wenn sie sich getrennt hätten – damit sie sich selbst wieder hätten verwirklichen und Spaß am Leben hätten haben können. Ich glaube also nicht, dass man auf Gedeih und Verderb zusammen bleiben sollte. Aber ich habe mal etwas gelesen, dass mich beeindruckt hat. Ein altes Ehepaar ist gefragt worden, wie sie es geschafft haben, so lange zusammen zu bleiben, wo in der heutigen Zeit doch so viele Beziehungen schnell wieder in die Brüche gehen. Und die Antwort war: Wir sind in einer Zeit aufgewachsen, in der man noch kaputte Sachen nicht einfach weggeworfen hat, sondern zumindest versucht hat, sie zu reparieren.

Ich hätte nach dieser Mail schon fast Lust gehabt, einfach in Dein Büro zu marschieren, um Dir zu zeigen, dass es mich tatsächlich gibt, dass da hinter der Projektionsfläche trotzdem auch ein Mensch ist und dass wir jetzt mal Auge in Auge über Schicksal, Zufall, Lebensentscheidungen und Respekt gegenüber anderen reden müssen. Aber Du hast mal wieder Glück gehabt, B. ist einfach zu weit weg und ich habe keinen Freizeitausgleich mehr demnächst…

> Und meine Passivität darfst Du nun auch nicht verallgemeinern …. < Danke - die Watschen habe ich auch verstanden…

Irgendwie ist es tatsächlich wie vor 15 Jahren: Du bist bei mir gerade auch wieder sehr präsent, mein Alltag ist dadurch im Moment viel anstrengender. Du lässt mich leider schon wieder nicht kalt, sondern beschäftigst mich sehr. Auch ich genieße diesen kleinen Anfall von leichtem Flattern in der Magengrube und lege mir dafür Entschuldigungen zurecht.

Aber ich muss mich auch immer wieder ärgern und fühle mich nicht ernst genommen. Frage mich, inwieweit Du mich eigentlich schätzt oder inwieweit ich nur da bin, damit Du Dich gerade gut fühlen kannst.

So, jetzt habe ich mich etwas ausgekotzt, musste jetzt mal sein, mein Herzensbrecher. Grübel nicht zu viel darüber ...

Lena

24.11.   08:12

Meine Liebe,

sitze gerade beim Frühstück und lese Deine Mail. Super, meine Bemühungen, etwas zu erklären, sind anscheinend voll nach hinten losgegangen. Ich wäre am Freitag besser früh ins Bett gegangen als zu schreiben. Egal. Ich hätte jetzt tatsächlich nicht wenig Lust, in der Küche sitzen zu bleiben und zu antwor­ten, denn da habe ich natürlich auch Einiges zu zu sagen. Aber ich bin vernünftig und geh auf Arbeit. Vielleicht schaffe ich es morgen.

LG Johann

24.11.   19:45

Liebe Lena,

genüg gegrübelt; muß mal wieder direkt antworten. Ich hatte mich schon so an den netten Umgangston zwischen uns gewöhnt, aber Du hast Recht, man sollte nicht träge werden und sich in Liebeleien verlie­ren. Deshalb ist ab und zu Dazwischengrätschen schon in Ordnung. Ganz fair ist Deine Abfuhr aber nicht. Da ermunterst Du mich erst, Dir doch dieses und jenes zu erzählen und schreibst, daß Du gerne wüßtest, was in mir so vorgeht. Und dann berichte ich etwas darüber, wie es mir gerade gefühlsmäßig so geht und verbinde das mit ein paar allgemeinen Betrachtungen übers Verliebtsein etc. – und laufe damit dann sofort in´s offene Messer. Volle Breitseite aus Deinen Kanonenrohren. Aber gestählt und gut trainiert durch Deine vorangeganenen verbalen Attacken, fühle ich mich gerüstet für den Abwehrkampf :-).

Du argumentierst oft mit einem hohen moralischen Anspruch und ich hoffe, Du wirst diesem gegenüber Dir selbst auch gerecht. Es ist sicher bewunderswert, wenn man ohne Fehl und Tadel durchs Leben kommst. Immer das Richtige tut, nie das Falsche denkt oder fühlt. Mir ist diese Tugend anscheinend nicht immer gegeben. Neben Dir komme ich mir dann manchmal wie ein mieser egoistischer Hedonist vor (das war jetzt nur eine etwas polemische Eröffnung). Deine Zusammenfassung meines Briefes war übrigens nicht schlecht, aber natürlich vollkommen überspitzt und ironisch.

Die Beispiele waren vielleicht nicht perfekt und Du hast Dich selbstverständlich sofort mit den betroge­nen Ehefrauen identifiziert, aber Ehemänner werden ja genauso betrogen. Ich wollte doch nur sagen, daß selbst Paare, die offenbar wie füreinander geschaffen sind und ihr ganzen Leben miteinander ver­bringen, emotional – oder von mir aus auch sexuell – nicht immer nur auf einen Menschen ausgerichtet sind. Das kann man doch auch mal einfach als Tatsache hinnehmen, ohne es direkt als moralisch ver­werflich zu geiseln. Auf uns bezogen sollte das nur bedeuten: ich möchte mich nicht nur schuldig fühlen oder unsere Begegnung (Beziehung ist bei Dir ja enger definiert) immer aus der Perspektive des Fehlver­haltens empfinden, sondern auch mal das Schöne und Besondere sehen dürfen.

Du meinst, daß ich nur halbe Sachen mache, alles relativiere und damit für Verwirrung sorge. Obwohl Dich das, was ich schreibe, schon oft genug aufregt, beschwerst Du Dich, daß ich nicht noch eindeutiger oder klarer bin (ich weiß nicht, was ich dann zu erwarten hätte …). Mal ganz abgesehen davon, daß Du mindestens genauso vage, nebulöse und unklare Botschaften sendest, finde ich eigentlich, daß ich schon sehr viel gesagt habe, wenn ich an die letzten Mails denke. Mehr geht eigentlich nicht. Und ich glaube, Du verstehst diese Botschaften schon. Was die Lieder angeht, darfst Du gerne zwischen den Zeilen lesen, ich muß doch nicht immer alles klar aussprechen. Wenn die Texte und Videos vollkommen deplaziert wären, hätte ich sie Dir sicherlich nicht geschickt. Was erwartest Du denn von mir? Ich fasse mal zusam­men: ich bin verheiratet, Du bist verheiratet. Ich habe Kinder, Du ebenfalls. Und ich denke mal, wir haben damit so ziemlich den höchsten Grad gegenseitiger Nicht-Verfügbarkeit erreicht, den man sich vorstellen kann. Soll ich Dich zum Ehebruch auffordern oder dazu, Deine Familie zu verlassen und mit mir durchzu­brennen?

Warum mußt Du viele Dinge immer so negativ sehen oder zu Deinen Ungunsten interpretieren? Wenn ich Dir schreibe, daß ich mich über Dich freue, meinst Du, ich benutze Dich nur (rücksichtslos), um mich selbst gut zu fühlen. Schreibe ich auf Deine entsprechende Kritik des Passivseins, daß ich nicht nur passiv bin, machst Du daraus einen Watschen gegen Dich (was es absolut nicht war, habe mir aber schon gedacht, daß Du es so sehen würdest). Schreibe ich was über die Vorzüge des virtuellen Seins (in unserer Situation ja möglicherweise verständlich), deutest Du dies als Wunsch, Deine reale Existenz als Mensch zu negieren und Dich nicht richtig wahrzunehmen oder gar, Dich nicht zu respektieren. Dir nicht wirklich begegnen zu wollen (nichts täte ich lieber, wenn es so einfach ginge). Das darf doch nicht war sein! Ich könnte schreien! Und warum Du Dich nicht ernst genommen fühlst, ist mir auch ein Rätsel. Vielleicht willst Du manches ja auch mißverstehen – aus Selbstschutz oder was weiß ich für Gründen. Ich frage mich dann schon, was Du mir eigentlich sagen willst. Wie sollen wir es denn anders halten? Briefwechsel einstellen? Uns nur noch wirklich treffen? Uns richtig ineinander verlieben? Gar nicht verlieben, sondern treffen und richtig aussprechen ("Auge in Auge über Schicksal, Zufall, Lebensentscheidungen und Respekt gegenüber anderen") und dann getrennter Wege gehen? Du gibst mir auch viele Rätzel auf und ich sehe nicht, daß Du Dich derzeit so viel anders verhältst als ich – moralischer Anspruch hin oder her.

Ich gehöre im übrigen auch zu den Menschen, die nicht alles sofort wegschmeißen (Constanze ist ein Beispiel dafür), aber ich weiß nicht, ob es darum überhaupt geht. Ich zumindest habe niemals gesagt, daß etwas kaputt ist und Du sprichst schon vom Reparieren. Du bist mir in der Phantasie da anscheinend schon ein paar Schritte voraus. Vielleicht meinst Du mich auch gar nicht mit Deiner Kritik, sondern die Vorwürfe richten sich eher an Dich selbst, weil du Dich in meinem Verhalten wiederfindest und Dich das erschreckt.

Ich hatte beim Lesen Deiner Mail auch Lust, mich einmal direkt neben Dir zu materialisieren, aber meine Phantasie ist etwas anders. Ich würde Dich dann lieber feste packen und küssen, bis keine Worte mehr aus Deinem Mündlein kommen können und Du über nichts mehr schimpfen mußt ... Glück gehabt, daß die Technik des Beamens noch nicht so weit ist :-). Und nur zur Sicherheit: das jetzt bitte nicht so inter­pretieren, daß ich nur an Deinem Körper oder sinnlichen Reizen interessiert bin – ich kann mir auch vor­stellen, Dir jahrelang nur zu schreiben (wäre aber schon ein wenig hart …). Ja, ich mag Dich, das stimmt. Durch unseren Briefwechsel kommt der ganze emotionale Kosmos vergangener Zeiten wieder hoch und auch ich habe zeitweise das Gefühl, es hat sich gar nicht so viel geändert. Ich vermisse Dich manchmal, ich habe manchmal Sehnsucht nach Dir (sonst würde ich das auch nicht schreiben). Und könnte mir so manches mit Dir vorstellen. Aber so what? Welche Konsequenz sollte sich daraus ergeben? Wenn Du eine gute Antwort weißt, laß es mich bitte wissen.

Letzlich konntest Du mich somit nicht ganz überzeugen. Ich bleibe dabei, das kleine bißchen Verliebtheit zu genießen (und zu versuchen, es so klein zu halten, daß es keinen Schaden anrichtet – natürlich ohne Erfolgsgarantie …). Vielen Dank dafür! Und selbstverständlich noch ein Gute-Nacht-Lied:

www.youtube.com/watch?v=W_Tvg2sbAN8

Einen leidenschaftlichen virtuellen Kuß sendet Dir

Dein Herzensbrecher ;-)