12.01. 10:48 Das Spiel ist aus
Die alte Dame sitzt an ihrem Pult, die Ellbogen auf dem großen geschlossenen Hauptbuch, das Kinn auf die verschränkten Hande gestützt. Der Kater liegt wie gewöhnlich auf dem Buch.
Eve und Pierre nähern sich schüchtern der alten Dame. Diese richtet sich auf: "Ach, da sind sie ja ... Sie kommen fünf Minuten zu spät." "Wir haben uns also nicht getäuscht?" fragt Pierre. "Sie haben uns erwartet?"
Die alte Dame schlägt das dicke Buch an einer durch ein Lesezeichen gekennzeichneten Stelle auf und beginnt mit kalter und eintöniger Kanzlistenstimme zu lesen: "Artikel 140: Falls auf Grund eines Irrtums, für den einseitig die Direktion verantwortlich ist, ein Mann und eine Frau, die füreinander bestimmt waren, sich zu ihren Lebzeiten nicht begegnet sind, so können sie unter bestimmten Bedingungen die Erlaubnis, auf die Erde zurückzukehren, erbitten und erhalten, um dort ihre Liebe zu verwirklichen und das gemeinsame Leben zu führen, das ihnen unrechtmäßigerweise vorenthalten worden war."
Sie hört auf zu lesen, hebt den Kopf und blickt durch ihre Lorgnette auf das verdutzte Paar. "Sind sie deshalb hier?" Pierre und Eve sehen sich gegenseitig an, und unter ihrer Verblüffung regt sich große Freude. "Soll das heißen ..." stammelt Pierre. "Wünschen Sie, auf die Erde zurückzukehren?" "Mein Gott, Madame ..." sagt Eve. Die alte Dame drängt, leicht gereizt: "Ich stelle Ihnen eine präzise Frage", sagt sie ungeduldig, "antworten Sie."
Pierre wirft seiner Begleiterin einen freudig fragenden Blick zu. Eve antwortet durch ein Kopfnicken: Ja ... Dann wendet er sich wieder an die alte Dame und erklärt: "Wir wünschen es, Madame. Wenn es möglich ist, wünschen wir es." "Es ist möglich, mein Herr", versichert die alte Dame. "Es kompliziert zwar den Dienst ungeheuer", fügt sie hinzu, "aber es ist möglich."
Pierre ergreift stürmisch Eves Arm. Aber unter dem strengen Blick der alten Dame läßt er ihn schleunigst wieder los, und sein Gesicht wird ernst. Im Ton eines Standesbeamten befragt sie Pierre: "Sie behaupten, für Madame geschaffen zu sein?" "Ja", sagt er schüchtern. "Madame Charlier, Sie behaupten, für Monsieur geschaffen zu sein?" Errötend wie eine junge Braut murmelt Eve: "Ja ... "
Nun beugt sich die alte Dame über ihr Hauptbuch, blättert darin und murmelt vor sich hin: "Camus ... Cera ... Chalot ... Charlier ... Hier, Da ... die, do ... Dumaine ... Da haben wir's. Stimmt tatsächlich. Sie waren amtlich füreinander bestimmt. Der Abteilung Geburten ist da ein Irrtum unterlaufen."
Eve und Pierre strahlen sich glücklich und verwirrt an und drücken sich verstohlen die Hände. Eve ist etwas erstaunt, Pierre ein bißchen eitel. Die alte Dame lehnt sich zurück und prüft die beiden aufmerksam durch ihre Lorgnette. "Schönes Paar!" sagt sie. Dann beugt sie sich wieder über das Buch, aus dem sie den berühmten Artikel 140 vorgelesen hat. Aber diesmal faßt sie zusammen:
"Sie müssen folgende Bedingungen erfüllen: Sie kehren ins Leben zurück. Vergessen Sie nichts von dem, was Sie hier erfahren haben. Falls es Ihnen innerhalb von vierundzwanzig Stunden gelingt, sich in vollem Vertrauen und mit allen Kräften zu lieben, haben Sie Anrecht auf ein vollständiges menschliches Leben."
Dann deutet sie auf einen Wecker auf ihrem Schreibtisch: " ... wenn Sie das in vierundzwanzig Stunden, das heißt morgen um zehn Uhr dreißig, nicht erreicht haben ... " Pierre und Eve starren angstvoll auf den Wecker. "Wenn zwischen Ihnen auch nur das leiseste Mißtrauen bestehen bleibt ... nun, dann werden Sie mich wieder aufsuchen und Ihren Platz unter uns wieder einnehmen. Alles klar?" Bei Pierre und Eve mischt sich die Freude mit Angst, was sich in einer furchtsamen Zustimmung äußert: "Alles klar!"
Nun erhebt sich die alte Dame und verkündet feierlich: "Also, Sie sind vereint." Dann ändert sie den Ton und reicht ihnen lächelnd die Hand: "Herzlichen Glückwunsch." "Danke schön", sagt Pierre. "Meine besten Wünsche begleiten Sie." Pierre und Eve verbeugen sich, fassen sich ein bißchen linkisch an den Händen und gehen auf die Tür zu.
"Entschuldigen Sie, Madame ... Aber wenn wir da drüben ankommen, was werden da die Lebenden denken?" "Werden wir nicht allzu komisch wirken?" fragt Eve sorgenvoll. Die alte Dame schüttelt den Kopf und klappt ihr Hauptbuch zu. "Keine Sorge. Wir bringen alles auf den Stand der Minute, in der Sie gestorben sind. Niemand wird Sie für Gespenster halten."
"Vielen Dank ..." Pierre und Eve verbeugen sich noch einmal. Dann gehen sie hinaus, sich noch immer an der Hand halten. "Artikel 140" wiederholt Eve. "Wir waren füreinander bestimmt." Pierre legt den Arm um seine Begleiterin. Sie strahlen. "Wie heißen Sie?" fragt Pierre. "Eve. Und Sie?" "Pierre." Dann beugt er sich über ihr Gesicht und küsst sie.
Plötzlich gehen die Lichter aus, und Eve und Pierre erscheinen nur noch als Silhouetten, die aber gleichfalls verschwinden. ...
13.01. 15:22 Re: Das Spiel ist aus
Hallo mein Lieber, Vielen Dank für die Textpassage. Ich hatte mir mal kurz die Inhaltsangabe durchgelesen, damit ich in etwa weiß, worum es geht. Eve und Pierre versauen es aber, wenn ich mich recht an die Inhaltsangabe erinnere? :-( Und was möchte Sartre uns mit dem Buch eigentlich sagen?
13.01. 17:25 Re: Das Spiel ist aus
Diese Passage fand ich sehr schön ... :-).
Ja, ich habe das Büchlein jetzt auch nochmal schnell gelesen (morgens im Bett ...); die Geschichte hat mich tatsächlich ziemlich berührt. Natürlich auch deshalb, weil man Die Hindernisse und Schwierigkeiten von Eve und Pierre als Platzhalter sehen kann, die man zum Beispiel problemlos durch Situationen unseres Lebens ersetzen kann. Es geht ja im Wesentlichen um ein Paar, das eine zweite Chance erhält. Eine Chance, ihr Leben zu ändern und einer Bestimmung zu folgen. Ein neues Leben zu beginnen unter der Voraussetzung, daß sie sich ehrlich und bedingungslos lieben. Aber diese Chance wird eingebunden in ein fieses Setting, um ihre Liebe unter Beweis zu stellen – es geht nicht einfach so (sonst wäre es ja auch zu einfach ...). Beide haben Verpflichtungen aus ihrem alten Leben, die sie glauben nicht ignorieren zu können und die sie daran hindern, sich ganz auf sich zu konzentrieren, um den gemeinsamen Plan umzusetzen. Sie schaffen es also nicht, nur für sich dazusein, sich auf sich zu konzentrieren. Sie haben als Tote wichtige Informationen erhalten und hoffen, die Ihnen Anvertrauten dadurch vor ihrem Verderben bewahren zu können. Beide sind zerrissen zwischen der Aussicht auf das erfüllte Leben zu zweit und ihrem Vorleben. Ihre Liebe zueinander ist letztlich nicht stärker als ihre Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen, deshalb scheitern sie zum Schluß doch noch ganz knapp. Obwohl klar ist, daß sie dadurch sterben und dann auch nichts mehr erreichen können für ihre Mitmenschen. Man kann es vielleicht auch so lesen, daß sie die Freiheit, sich im neuen Leben füreinander zu entscheiden, nicht nutzen können - sie leben so weiter wie vorher, auch wenn sie wissen, daß es nichts bringt. Das Absurde der Geschichte besteht aber eben auch darin, daß ihr Einsatz für die Mitmenschen, denen sie glauben helfen zu müssen und denen gegenüber sie sich verantwortlich fühlen, an derem Schicksal nichts ändert. Die Aufstän-dischen werden trotzdem niedergemetzelt, Eves Schwester verfällt trotzdem ihrem früheren Mann, der sie schon auf dem Gewissen hat. Das Aufopfern für die Anderen war also umsonst. Sie haben eigentlich ganz unnötig verloren.
Ein eher deprimierendes Resümee also. Aber zum Glück sind wir im richtigen Leben ja nicht so deter-miniert in unserem Verhalten und unseren Entscheidungen. "Das Entscheidende ist, daß man getan hat, was man tun mußte." heißt es im Buch. Aber was muß man tun? Und wann weißt Du es?
Mit Anna habe ich noch nicht ausführlicher darüber gesprochen, aber in ihrem Alter ist es sicher schwierig, diese Botschaften mangels Lebenserfahrung schon wirklich zu verstehen.