Dein und mein Erleben

 

Die Erlebnisinhalte – bei allem Unterschied in Vielfalt, Intensität und Qualität – machen den radikalen Unterschied zwischen Deinem Leben und meinem Leben nicht aus - sondern allein die Tatsache, dass Du selbst jene Inhalte erlebt hast oder ich selbst sie erlebt habe.

Wir können die Inhalte unseres Erlebens einander mitteilen, aber die singuläre Art und Weise des Erlebens, wie beispielsweise Dir der Kaffee geschmeckt hat, oder was Du empfindest, wenn Du in eine Landschaft schaust oder ein Bild betrachtest oder eine Melodie hörst oder Kindergeschrei, kann ich nicht mit Dir teilen. Du kannst mir die Art und Weise, die spezifische Farbe oder das spezifische Gewicht Deines Erlebens nicht einflößen, sodass es Teil meines Erlebens würde, wie das Stück Kuchen schließlich und end-lich Teil meines Blutkreislaufs wird.

Ich kann anhand Deines Schmerz- oder Lustgebarens ermessen, dass Du Schmerz oder Lust empfindest, anhand Deiner Beschreibungen mir eine Vorstellung von Deinen Empfindungen zu machen versuchen. Und ich kann Dir in Ausnahmefällen unterstellen, dass Du mit dem einen oder anderen Gebaren nur vortäuschst, Schmerz oder Lust zu empfinden. Allerdings bin ich prinzipiell nicht in der Lage, Deinen Schmerz, Deine Lust und Deine Vorstellungen zu empfinden.

Aus Deinem körperlichen Gebaren, Deinen Gesten und Bewegungen, Deinem Mienenspiel sowie am Sinn Deiner Äußerungen und am Sinn und Zweck Deiner Handlungen sowie aus den mannigfachen Verflech-tungen unserer sozialen Interaktionen erfasse ich unmittelbar die Tatsache Deines Beseeltseins. Ich habe mich nicht nach langwierigen Überlegungen zu der Überzeugung durchgerungen, dass Du keine intel-ligente Maschine und kein menschenähnlicher Roboter bist, der menschenähnliche Gesten, Bewegungen und verbale Äußerungen nur nachahmt, sondern ich bin mit Dir in einer gemeinsamen Lebensgestalt gleichsam verschmolzen und würde nie und nimmer auf die Idee verfallen, es könne anders sein.

Du hast die gleichen Organe zum Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen und Denken wie ich. Warum sollte also das, was Du siehst, hörst, fühlst, schmeckst, riechst und denkst, in seiner sensorischen Anmutung und Qualität prinzipiell anders beschaffen sein als das, was ich sehe, höre, fühle, schmecke, rieche und denke? Ist es auch nicht prinzipiell anders, wird es aber doch graduell mannigfach variieren.

So empfindest Du mit Deinem empfindlichen Geschmackssinn den Kaffee bereits als etwas bitter, wenn ich ihn mit meinem gröberen Organ noch genüsslich herunterschütte. Du magst beim fernen Geräusch der Kreissäge Heimweh nach den Kindheitstagen empfinden (damals warst Du gern beim Schreiner in der Werkstatt), während ich dieses Geräusch nur lästig finde. Du magst den Geruch von Stallmist abstoßend finden, während bei mir dadurch angenehmste Erinnerungen und vielfältigste innere Bilder von Ferien-wochen in der Jugend wachgerufen werden. Du wirst wahrscheinlich andere Gedanken und Empfin-dungen haben beim Gang durch eine Allee im Sonnenschein oder beim Krähen der Raben an einem nebe-ligen Novembermorgen. Aber auch beim Küssen und Umarmen, beim Anblick Deines Gegenübers und im Gespräch.

Solcherart sind unsere sinnlichen Wahrnehmungen und Empfindungen übersponnen von zarten Fäden der Erinnerung und der Phantasie. Das macht eben die Nuancierung und Raffinierung unserer Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle aus; sie sind das Produkt der gedanklichen und sensorischen Einflüsse unseres ganzen Lebens, werden durch die lebenslang akkumulierten Erlebnisse und Erinnerungen modu-liert, und sind insofern meist nicht vergleichbar, aber auch nicht jenseits aller Berührungspunkte.

Ja, wir versichern uns dieser Berührungen in all den Fällen, in denen wir unsere Erfahrungen austauschen und etwas gemeinsam erleben. Ich verstehe ja, was Du meinst, wenn Du sagst, der Kaffee schmecke ein wenig bitter, und wir sind einer Meinung, wenn wir unseren gemeinsamen Aufenthalt in der herbstlichen Pracht des Parks schön, erfreulich, erheiternd oder inspirierend finden; wenn wir uns gemeinsam über etwas freuen, erregen oder ärgern.

Doch trotz aller Versuche, unser Erleben einem anderen Menschen differenziert zu beschreiben und nöglichst detailreich und plastisch zu veranschaulichen, stoßen wir irgendwann in einen Bereich, der nicht mehr mitteilbar und für den Anderen auch nicht vorstellbar und erfahrbar ist, einfach weil der individuelle emotionale und mnestische Hintergrund fehlt. Es ist die absolute Barriere des subjektiven Erlebens, das uns selbst nicht verlassen und von niemandem außer uns selbst so empfunden werden kann.

Die Schnittmenge, mit der wir uns im Alltag begegnen, ist aber offensichtlich groß genug, um ein Zusam-menleben zu ermöglichen und das Gefühl zu erzeugen, man würde das Erleben mit seinen Mitmenschen teilen, auch wenn wir annehmen dürfen, dass dies zu einem nicht unerheblichen Teil auf einer Illusion beruht beziehungsweise nur in einer eher allgemeineren, oberflächlicheren Art und Weise zutrifft.

Wir haben eine gemeinsame, allgemeine Vorstellung davon, was schön, schrecklich, schräg, grausam oder unmöglich ist, und können über die gleichen Dinge lachen und uns darüber mit unserem Gegenüber verständigen und austauschen. Aber wie sich das Schöne und Schreckliche oder die Erinnerung an ein ver-gangenes Ereignis beim Anderen genau anfühlt, welcher Assoziationskontext und Erlebnisinhslt damit verbunden ist und warum wir eigentlich einen unterschiedlichen Geschmack und andere Vorlieben haben, wissen wir meist nicht zu erklären und zu beschreiben.