A Flock of Seagulls

Endlos lang der Strand in Richtung Swinemünde und darüber hinaus, hunderte Kilometer weiter nach Osten. Nach Danzig, Pillau, Memel, Riga, Tallinn, wahrscheinlich bis nach St. Petersburg. Leichter Wind, Mövengeschrei, eine schmale Kette dick eingepackter Strandläufer bewegt sich wie ein langes Band in beide Richtungen. Kaltes, trübes Januarwetter, doch beim schnellen Gehen ist es angenehm warm. Das Meer heute ganz ruhig, wie ein großer See. Im Hintergrund ein paar große Personenschiffe und Tanker Richtung Femer Belt. Das Graublau des Wassers bildet mit dem unruhigen Grauweiß des Himmels am Horizont eine unscharfe Linie. Leises, meditatives Rauschen der flachen Wellen, die sanft in den feuchten Sand auslaufen; Meer und Land gehen unbestimmt ineinander über. Die von einem Wasserfilm bedec-kten Sanderhebungen glänzen metallisch wie frisch lackiert. Sinnliche, belebende Atmosphäre. Nichts tun außer Laufen und Denken. Ich denke nur an Dich und an das kommende Jahr und seine ganze Unbe-stimmtheit. Es sind viele traurige Gedanken. Dieses jahrelange Ringen darum, was man nun miteinander anfangen soll, was man voneinander will und nicht will. Ich will Dich, aber willst Du mich wenigstens etwas? Du bist ein großes Abenteuer für mich, aber Du willst es nicht leben. Nicht Loslassen können, aber auch nicht richtig Zusammensein wollen. Die erstarrte Situation. Du bist so weit weg. Ich will Dich nicht verlieren, weiß aber nicht, wie ich das noch verhindern soll. Ich sehe bei Dir keine Energie und kei-nen Willen, etwas zu ändern. Du scheinst auch nach über vier Jahren nicht zu wissen, was Du willst. Keine Idee, keinen Plan. Oder Du verschweigst mir das alles. Was weiß ich eigentlich von Dir? Die Aussichten erscheinen so trübe wie die Farben hier am Meer. Eine Frau, die sich mit mir in Hotelzimmern trifft und Mails schreibt, aber kein Interesse an einer tieferen und längerfristigen Bindung erkennen lässt. Die physischen Hinweise der Grenze zu Polen sind im Laufe der Jahre verschwunden, sie wird unwissentlich passiert, nur der plötzlich größere Anteil polnischer Wortfetzen unter den Strandbesuchern lässt die aktuelle Position vermuten. Eine Gruppe Schwäne und Enten belagert einzelne, Futter verteilende Aus-flügler, die Tiere kommen dreist und respektlos näher und mustern jeden Passanten abschätzend und fordernd. Wann werden wir uns wiedersehen? Und wie oft noch? Wird es bald ein Wochenende in Berlin geben? Oder werden wir stattdessen eine Woche irgendwo zusammen verbringen? Das wäre eine sehr verheißungsvolle Aussicht. Wirst Du den Kontakt einfach einschlafen lassen, um eine klare Entscheidung zu umgehen und nichts aussprechen zu müssen (vermutlich der bequemste Weg)? Es wird langsam dämmrig, ein diffuses Licht verändert die Stimmung. Der Wind nimmt zu, im nebeligen Dunst erkennt man inzwischen undeutlich die Landzunge, die westwärts die Einfahrrinne zur Swine begrenzt, welche quasi als einer von drei Oderarmen das Stettiner Haff mit der Ostsee und dem Swinemünder Hafen ver-bindet. Zwischen Meer und Strand hat sich ein unübersichtliches Netz kurzer, flacher Wasserarme und Senken gebildet, eine den Himmel spiegelnde Übergangszone, die man leicht queren kann. Man fühlt sich dort wie nicht ganz zugehörig, weder zum Flüssigen noch zum Festen. Wie soll man sich richtig ken-nenlernen, wenn man sich kaum sieht und nur wenige Erlebnisse miteinander teilt (auch wenn diese die Intensivsten sind)? Einen wesentlichen Teil des Anderen nie mitbekommt, weil man sich nur im relativ unkomplizierten Ambiente privater Stunden zu zweit bewegt? „You are the book that I have opened, and now I want to know much more.“ Nur wie? „Exploring you was never easy“. Der Wind wird stärker, ein feiner Nieselregen nimmt die Sicht und lässt die Konturen nur noch unscharf erkennen. Dann, auf dem schmalen Wellenbrecher am Ende der Landzunge immer näher kommend und besser erkennbar, die Mühlenbake, weniger ein Leucht-, als vielmehr ein kleiner Signalturm für die in die Swine einfahrenden Schiffe. Als ich im böigen, kalten Wind vor diesem Türmchen stehe, denke ich einen Augenblick lang nicht an Dich: der schlanke, schlichte, weißreine Phallus mit den stilisierten Windmühlen-Attrappen und dem Rapunzel-Fenster unterm Dach sieht vor dem schmutzig-grauen, unruhigen Himmel sehr hübsch und elegant aus. Filigran und doch solide standhaft. Einsamer Außenposten der Zivilisation. Ein paar Fotos, bis die Hand erfriert. Bei Sturm werden Wasser und Gicht sicher hoch an die Mauern schlagen und ein Verlassen des Gebäudes unmöglich machen. Dort oben im Kämmerlein gemeinsam eine Nacht verbringen, könnte sehr reizvoll sein – mutterseelenallein würde man das Heulen des Windes, das Rau-schen der Wellen und die Motoren der unmittelbar vorbeifahrenden Schiffe hören . Ich stelle sie mir direkt bildhaft vor, eine solche Nacht. Berührungen, Küsse, Vereinigungen. Dein Gesicht, Deine Stimme. Vermisse Dich so, habe so große Sehnsucht. So lange keine Berührung. Auf dem Rückweg wird es schnell dunkler. Strand und Meer und Himmel verschwimmen hinter den tropfenübersähten Brillengläsern zu einem diffusen, ungefähren Raum. Ich laufe direkt am Wasser, im festen, nassen Schlick geht es zügig voran. Der breite, gelb-braune Strandstreifen, nach Süden hin von dunklen Baumreihen flankiert, verliert sich im diesigen Nirgendwo. Die kleinen Wellen erreichen das Ufer kraftlos und wie in Zeitlupe. Ich sollte unsere Beziehung vielleicht wirklich mal in kleine Geschichten verpacken, um ihre Essenz herauszuar-beiten, das Wesentliche, das Besondere. Damit noch etwas bleibt, wenn Du wieder gegangen bist. „Eine Frau von ungefähr vierzig Jahren“ fällt mir spontan als Titel für eine von solchen Analysen ein ;-). Rhythmisches, mechanisches, automatisiertes Gehen. Eine lockere Gruppe Krähen läuft etwas nervös und ungeduldig hin und er, wie in Erwartung eines großen Ereignisses, das sich gleich vor ihren Augen vollziehen wird. Doch es passiert vorerst nichts. „There´s so much left for us to do“. Oder „Haben uns gefunden, spätes Glück, keine Sekunde zu verlieren.“ Warum siehst Du das nicht? Bald sieht man kaum noch Menschen. Weit in der Ferne, undeutlich und vage wie eine Fata Morgana, die matten Lichter von Ahlbeck. Später, es ist bereits finster und man erkennt kaum noch etwas, spiegeln sich die Lampen der Landungsbrücke wie eine leuchtende Perlenschnur auf dem nassen Ufersaum und verzerrt entlang der Wellen.

„You know it's hard to tell, hard to tell, when all your love's in vain … “