Am Tage und in der Nacht

Zurück aus der Paul-Robeson-Straße – die Wohnung ist bereit für Dich. Vom S-Bahngleis schnell in die Tiefe des Hauptbahnhofs, die Augen ständig aufs Display: wo steckt sie denn? Runter, Blicke überall hin. Lichter, Leute, hektisches Treiben, Rolltreppen kreuzen diagonal die Ebenen, spiegelndes Glas, viel Raum. Ich nehme das alles nur undeutlich wahr, wie Hintergrundrauschen, gedanklich darauf zentriert, Dich zu finden. Es wird Zeit, ich will nicht länger warten. Ein Mißverständnis, Du läufst hier irgendwo rum (aber Mißverständnisse gab es schon dramatischere in unserer Biographie …). Endlich Gleis 2 in Sicht, eine letzte SMS, gleich bin ich am Ziel. Da stehst Du plötzlich: allein, den Blick aufs Handy gerichtet. Ruhig und frei im wilden Gewusel. Roter Mantel, Mütze, Ledertasche und Rucksack. Es ist soweit. Endlich. Wenn auch nur kurz. Du siehst entzückend aus. Wir laufen Richtung Washingtonplatz. Richtig anfassen nicht möglich; Du wirst nicht akzeptieren, daß ich eine dunkle Ecke definiere, um Dich abzuknutschen. Raus. Du mußt direkt weiter. Unfaßbar eigentlich. Aber so war die Vereinbarung – wir müssen ständig Kom¬promisse machen. Letzte Absprachen. Ich begleite Dich soweit wie möglich Richtung Spree. Dann ver¬schwindest Du schon wieder in der Nacht. Aber diesmal mit Hoffnung auf baldige Rückkehr.

Einkaufen bei REWE. Wieder REWE. Ohne Dich kein Rausch. Zurück ins Steigenberger und seinem stillen, gediegenen Luxus in Beigetönen. Ich bin so aufgebracht. Dieses Hin und Her. Versuche, ruhig zu bleiben. Womit beschäftigen? Duschen, Umziehen, etwas Schreiben, später Brexit-Countdown in der Glotze. Die Vorfreude ist doch eigentlich fast genauso schön. Nach Mitternacht verkündest Du, daß Du zu mir kommst. Das hört sich verdammt gut an. Ich spüre die Freude sofort ganz körperlich. Die Dauererregung wird noch stärker. So kitschig es auch klingt: es fühlt sich an, als ob die fehlende Hälfte zurückkehrt. Ja, das solltest Du tun: zu mir kommen! Und zwar nicht nur für ein paar Tage.

Irgendwann bist Du da. Ich weiß nichts mehr von den Minuten danach, aber es war sicher schön. Zu viel, um es sich zu merken. Es gibt Sekt wie immer. Eine ganze Flasche. Und ein komfortables Bett. Groß genug. Feste, ungeteilte Matratze, angenehme Spotbeleuchtung. Wir liegen dort, wälzen uns, vereinigen uns. Wann sollen wir aufbrechen? Die Wohnung ist gerichtet, die Lampen brennen noch. Zu müde, zwischendurch schlafen wir mehrmals ein, irgendwann ist es zu spät. Und zu gemütlich. Ich laß Dich sowieso nicht los. Nicht jetzt. Du bist nervös, fühlst Dich unwohl als blinder Passagier. Hast es aber innerlich anscheinend auch schon lange aufgegeben, Dich gegen Schlaf und Umarmungen zu wehren.

Morgens das üppige Frühstück, Du ganz offiziell als zahlender Gast. Fast drei Tage liegen vor uns – das ist fantastisch! Nach dem Essen sollten wir zurück ins Bett, das wäre eigentlich der richtige Ort. Nach so langer Abstinenz bräuchte ich sofort noch eine Extradosis Deiner unmittelbaren Nähe. Schon verrückt. Warum ist das denn so wichtig? Doch Du kannst nicht wieder hoch. Der zweite Abschied aus dem Zimmer, mit der S-Bahn über Friedrichstraße und Gesundbrunnen Richtung Prenzelberg. Oder ist es schon Pankow-Süd? Die Schwarz-Weiß-Bilder von Menschenmassen nach der Grenzöffnung an der S-Bahn-Station Bornholmer Straße, die Mauerreste am Platz des 9. November 1989: sehr weit weg wirkt das. Man erkennt hier eigentlich nichts mehr. Die Kirschbäume blühen schon in Zartrosa, im Januar! Wann war ich das letze Mal hier? Vor nicht allzu langer Zeit, aber das war ganz anders. Die Wohnung im Hinterhaus ist gut und passend. Wann ziehe ich Dich aus, wann liegen wir nackt im Bett? Immerhin hast Du Dich vorher kurz umgeschaut – und auf dem Klo warst Du auch noch.

Es ist selbstverständlich und aufregend zugleich. Wie immer also, wenn ich auf Dich treffe. Es ist wie nach Hause kommen. Die Physis, das Anfassen, das Ineinanderstecken von Körperteilen. Deine Stimme. Die Worte, die aus Deinem Mund fließen, egal, welche. Alles ist vertraut und notwendig und himmlisch. Das Schlafzimmer als Zentrum. Stimmungsvoll, großzügig, transparente Vorhänge vor den Fenstern. Typisch Berliner Altbau. Mal dämmrig, mal hell. Man fühlt sich sofort daheim - es wird unser Zuhause für die nächsten zweieinhalb Tage. Die Zeit vergeht wie üblich, ohne daß man es richtig merkt. Alles ist kondensiert auf den Augenblick. Musik rieselt durchs Zimmer - jetzt ist es sicher die Special-Playlist mit unseren Liedern, aber wer weiß das später noch. Du bist verabredet, mußt gleich schon wieder weg. Egal. Es geht mir so gut, daß es gar nicht viel ausmacht. Ich beobachte Dich beim Anziehen, beim Ausziehen. Ich bekomme natürlich nicht genug.

Dann gemütlich allein im Bett mit Wein und Buch. Wie soll ich mich konzentrieren? Komm bald zurück! Lesen, Denken, sich auf Deine Rückkehr freuen. Versuchen, ganz in der Gegenwart zu verweilen. Sich bewußt machen, wie glücklich man gerade ist. Jetzt, in diesem Augenblick, in diesem Bett, in dieser Wohnung. Du bist nicht da, aber nah, ich kann mich freuen auf Dich. Irgendwann erneut eine Meldung: ich komme zurück zu Dir! Ich bin beruhigt. Das hört sich an, als hättest Du es Dir lange überlegt und jetzt endlich einen definitven Entschluß gefasst. "I think that we could make it."

Und Du kommst tatsächlich! Ich liege wohlig im Bett und höre Dich reinkommen. Die sich öffnende Wohnungstür, Hantieren mit den Schlüsseln, etwas ablegen. Als ob wir schon ewig zusammenleben würden und Du einfach mal wieder heim kommst. Zieh ich Dich aus oder machst Du das selber? Beisammensein ohne in wenigen Stunden wieder auseinandergehen zu müssen. Nicht auf die Uhr schauen müs¬sen. Einfach abhängen ohne Zeitdruck. Was für Andere selbstverständlich erscheint, ist für uns ein kostbares Geschenk. Was immer wir tun, ich bin bei Dir. Deine Haut, Dein Mund, Dein Speichel, Deine Zunge. Dein Bauch natürlich. Das aufregende Spektrum Deiner Gerüche. Trinken, Reden, In-Dir-Sein, Dich spüren überall.

Später draußen in der Nacht. Kastanienallee, wir laufen Hand-in-Hand Richtung Zionskirche. Ausgehstimmung, gemütliche Cafes und Restaurants. Alles sieht verlockend und einladend aus. Deine Scherze auf Kosten meiner Gedärme. Ich bin immer leicht angeschlagen, wenn Du bei mir bist, aber das müssen nicht die üblichen Gründe sein. Es ist jedes Mal etwas Ausnahmezustand, wenn wir zusammen sind. Nicht nur im Bett. Zwei Unentschlossene suchen etwas zu Essen. Nichts passt wirklich. Tilman und Judith könnten uns hier begegnen, die Gegend ist mir sehr vertraut. Aber sehr unwahrscheinlich. Was würden wir sagen? Schließlich doch die schlichte Focacceria. Das Essen ist mäßig, Du nicht. Bin etwas schräg drauf. Wie manchmal, wenn Du lange auf mich einwirkst. Ein neuronaler Transformationsprozeß scheint dann einzusetzen, der das Hirn weich und vulnerabel macht, Reizschwellen verändert. Draußen vor der Hauswand doch noch Umarmung. Es fällt mir schwer, die Öffentlichkeit als Hindernis zu akzeptieren und anständig zu sein.

In der Weinerei gibts Wein, aber keine Plätze. Jugend, Lärm, Trubel, mir gefällt's hier. Nur zu voll. Draußen wollen wir nicht stehen. Ich möchte Dich nur küssen. Schlimm. Als ob wir das an diesem Tag nicht schon genug getan hätten. Es ist Weinprobe heute Abend. Du lehnst an der Wand mit dem Glas in der Hand und siehst bezaubernd aus. Aufregend, erotisch, süß. Die Haare wuschelig, rikig, perfekt. Da wünschte ich kurz, das Bett nicht verlassen zu haben. Dein Strahlen. Alles leuchtet. Manchmal in solchen Augenblicken durchfährt mich ein tiefer Schmerz darüber, daß wir so viele Jahre getrennt waren, nebeneinander her gelebt haben, ohne etwas voneinander zu wissen. Daß ich nicht bei Dir sein konnte, als Du Fünfundzwanzig warst oder Dreißig. All diese Jahre. Daß wir noch immer an getrennten Orten leben, fast nichts Materielles vom Anderen kennen. Schnell an was anderes denken - Rückblicke und Selbstmitleid helfen wenig. Leider sieht die Zukunft auch nicht rosig aus, wir bleiben anscheinend in diesem Zwischenreich gefangen, als ob wir eine Langzeitstrafe absitzen müssen. Aber jetzt haben wir Ausgang für ein paar Stunden.

Ins Bett kommen wir dann auch wieder und ganz leicht. Ich weiß nichts mehr vom Danach, doch es war sicher schön. Was haben wir gemacht? Ich weiß auch nicht mehr, was wir gemacht haben, als ich früher – vor so langer Zeit – zu Dir kam in Dein Zimmer mit dem Stuhl in der Mitte, auf dem Du Dich präsentiert hast ... Nachdem ich auf Dir saß und wir uns exzessiv geküsst haben (immer exzessiv und endlos lang). Und wie viele Minuten wir brauchten bis ins Bett. Ich weiß es nicht, aber ich habe immer ein sehr gutes Gefühl, wenn ich daran denke. Für Erinnerungen scheint die Energie nicht mehr zu reichen. Oder keine kognitiven Kapazitäten dafür. Schließlich Löffelchen und hinter Dir liegen, fest umschlungen, die ganze Nacht. Aufwachen, mich Deiner vergewissern, einschlafen, miteinander schlafen? Irgendwann im frühmorgendlichen Dämmer findet Stöpsel ganz plötzlich und überraschend ungeplant einen Weg von hinten in Dich hinein. Zu anstrengend auf Dauer, aber man kann sich ja umdrehen und weitermachen :-). Es ist absolut herrlich, so tief in Dir zu sein. Oder Deine Bewegungen, wenn Du auf mir liegst und ich Dich fest umfassen kann. Wenn Du Dich runterbeugst und sich die Münder ineinander saugen.

Bett, Klo, Bett, Frühstück, Bett. Oder anders herum. Ich weiß es schon nicht mehr. Alles vermischt sich, zerfließt zu einem einzigen sinnlichen Brei. Du liegst schräg an mir und schaust zur Decke, ich am Rand im schwachen Lichtkegel und lese Dir aus „Laufen“ vor. Ein nicht endender Gedankenstrom. Es ist sehr gemütlich, aber ich muß mich konzentriern auf die Schrift und das Halten des Buchs. Manchmal ist alles unscharf, ich kann nicht richtig fokussieren, muß Worte manchmal mehr raten als lesen. Es geht auch um traurige Themen und Gedanken, um Tod und Depression und unerfüllten Kinderwunsch. Dann kann das Lesen schwerfallen. Es berührt mich mehr, als es mich berühren sollte. Du bist ganz still und reibst Dir die Augen. Irgendwann ist Schluß, um den einzigen festen Termin nicht zu verpassen. Doch nach dem Weglegen des Buches folgt zuerst ein ganz heftiger, wilder Kuß, übergehend in eine sehr leidenschaftliche Vereinigung. So sollte es sein. Wir bräuchten mehr solcher Wochenenden zu zweit. Viel mehr.

Auf dem Weg nach Lichtenberg zur Sporthalle. Hand in Hand die Straße entlang. Alles ist anders dort. Rustikal, bodenständig, derb und direkt in der Ansprache. Wir befinden uns tief im Osten. Leider nur sehr kurz. Bevor es richtig losgeht, sind wir schon wieder auf dem Heimweg. Ich sehe die Halle mit den grellen Neonröhren, Du auf dem anderen Feld in Deinem Sportdress – natürlich bist Du besser, ich habe es gleich geahnt. Aber egal: Du stehst dort verschwitzt und bezaubernd lächelnd. Gestikulierst fragend herum. Ich verstehe fast nichts von den Worten, als sei der Ton abgedreht worden. Ich trage das Bild noch ganz deutlich im Kopf, wie aus einem Film. Es ist wundervoll, dort mit Dir zu spielen und Dich aus der Distanz zu betrachten. Wie Du Dich bewegst und herumhechtest. Allein deshalb hat sich der Ausflug schon gelohnt, auch wenn der Fahrweg länger dauert als die Spielzeit. Du kommst zum Netz und lachst und küsst mich. Die Haare durcheinander. Ich hätte gerne noch lange so weitergespielt. Immerhin darf ich auf eine Revanche hoffen. In Berlin oder anderswo. Irgendwann - nur bitte bald. So feucht sollte ich Dich gleich entkleiden. Nicht mal Sauna, da bist Du eigen. Also schnell zurück ins Bett. Auch das war sicher wieder schön. Ein einziger sinnlicher Nebel. Du mußt auch noch um den Block ziehen und telefonieren. Das Doppelleben wird uns bei diesen unvermeidlichen Aktionen besonders bewußt. Es ist nicht schön, aber so schwer zu ändern – im Erfinden von Phantasiegeschichten sind wir Profis geworden wider Willen.

Wir hören alles Mögliche. Mr. Brightside suchst Du plötzlich. Und danach kommt alles, was das Autoplay für uns vorsieht. Die Musik verschmilzt mit dem Raum, mit Dir, mit diesem ganzen verrückten Leben, das wir führen. "Well the music plays and you display your heart for me to see." Dazu die Flasche Wein aus Bonn. Es ist so schön und so traurig. Es ist zum Verzweifeln. "Cause falling in love just makes me blue." Wird es immer so weitergehen? Zusammensein nur für ein paar Stunden? Du brauchst noch Tomatennudeln und ich ein Honigbrot.

Später beim Georgier um die Ecke. Es wirkt fast festlich. Reizend, mit Dir ein Restaurant zu besuchen. Borschtsch und so. Viel Fleisch. Du erzählst mir auch viel und wir haben viel getrunken. Gab es noch Nachtisch? Ich glaube, wir sind beschwingt zurückgelaufen. Spätestens In der Wohnung begann ein Lachkrampf, eine REWE-artige anlaßlose Heiterkeit. Zumindest weiß ich den Grund nicht mehr. Du hast mich im Flur umarmt, was bei mir ein unglaubliches Glücksgefühl erzeugte. Ich liebe Dich so sehr. Wir gehören doch zusammen. Wie der Abend endete und die Nacht begann, weiß ich auch nicht mehr (Ergänzungen sind willkommen), aber es war bestimmt sehr schön ...

Der letzte Morgen im Bett ist immer hart – jetzt geht es wieder los, das Auf-die-Uhr-schauen. Wenn man weiß, daß Aufstehen bedeutet, nicht mehr ins Bett zurückzukehren. Die letzte Vereinigung. Aber wir werden noch bis zum späten Nachmittag zusammen sein. Frühstück mit Müsli und Instant-Kaffee. Dann hektisches Aufräumen und Zusammenpacken. Das Ladegerät der Zahnbürste stand leider zu unauffällig auf dem Boden in der Wohnzimmerecke ... Danach auf dem Sofa sitzen und Vergiß-mein-nicht auf dem Laptop schauen, während wir das Eintreffen der Putzfrau jeden Moment erwarten. Doch sie kommt erst um dreizehn Uhr, da ist der Film gerade zu Ende. Wir gehen, doch vielleicht werden wir wiederkommen, eine nette Ecke hier. Nicht zu nah und nicht zu fern.

Wieder Bahnhof. Es ist gar kein Dejavu, da wir hier tatsächlich oft waren. Vier Sitzgelegenheiten mit unserem Zeug blockiert. Noch Verpflegung besorgen – Du natürlich bei Ditsch, dann zurück nach Westen. Auch das gab es schon öfters. Wenn wir erst im Zug sitzen, ist die Abschiedsszene in Hamm nicht mehr fern. Nochmal reden und sich an Dich lehnen. Dann bist Du plötzlich weg und ich fahre einfach weiter. Als wäre nichts dabei. Als wäre es ganz selbstverständlich, daß Du plötzlich weg bist und nach Münster gefahren wirst. Zurück in Deine Wohnung. Zu Deinen Kindern. Zu Deinem Mann. Als wäre ein Film zu Ende. Die Schlußeinstellung zeigt Dich winkend auf dem Gleis. Ich fahre einfach weiter und heule nicht, bin nur etwas gelähmt und apathisch. Einatmen, Ausatmen, würde Isabel Bogdan wahrscheinlich schreiben. Der Zug fährt einfach weiter, ihm ist es egal. Den anderen Reisenden auch. Sie erwarten das sogar, freuen sich, bald ihr Ziel zu erreichen. Mir geht es aber nicht so, denn der Zug trägt mich weiter und weiter weg von Dir. Hagen, Wuppertal, Leverkusen, Köln. Vertraute Stationen, die so oft bedeuten, daß ich gerade auf dem Weg zu Dir bin oder auf dem Weg zurück von Dir in mein anderes Leben.