In den Lieblingsfrühlingssommerwiesen

Meine drei Lieblingswiesen haben sich verändert. Die etwas abgeschiedene, verwinkelte, leicht anstei-gende beim Gut Melb, die Obstbaumwiese mit den vielen Frühlingsblüten in der Waldau und auch das große Wiesenfeld im Kottenforst am Annaberger Hof. Bis vor wenigen Tagen stand das Gras noch hüfthoch und höher; ein angenehm wogendes, silbrig-grünes Meer aus Halmen und Ähren – oder sagt man besser Rispen? – mit wundervollen Lichteffekten in der Nachmittagssonne, oder früh morgens, wenn ich auf dem Weg zum Venusberg vorbei radelte. Doch dann wurde alles plötzlich und zeitgleich gemäht. Nun sind sie immer noch schön, die Wiesen, aber anders. Ein ungewohnter Anblick. Kein Sicht-schutz mehr, alles kurzgeschoren; dafür aber bedeckt ein weiches, dickes Polster aus Heu die ebenen Flächen.  

Jede dieser Wiesen mit dem sie umgebenden Wald ist verschieden, jede hat ihre Zeit, jede hat ihre Reize. Doch bildlich ist dieses Etwas, sind diese dort entstehenden Stimmungen, der ganze Kosmos damit einhergehender Assoziationen und Empfindungen nicht festzuhalten. Die Plätze erzeugen diverse Phantasien, Erinnerungen, Zustände von Glückseligkeit, von Hoffnung und Traurigkeit. Doch all die Farben, das Licht, die Geräusche und Düfte dort draußen sind ja ein Nichts, völlig bedeutungslos ohne den Betrachter, der sie wahrnehmen kann, durch den sie erst irgendeinen Sinn erhalten; aber Auslöser vielfältigster innerer Prozesse, wenn sie auf ein empfängliches neuronales Netzwerk treffen – und sich dort verbinden und vermischen mit den abgespeicherten Eindrücken und Emotionen einer jahrze-hntelangen Auseinandersetzung mit der Welt und ihren dinglichen Erscheinungen, mit einer bestimmten Wirklichkeit und ihren Folgen. Und dem Versuch, mit all dem irgendwie klarzukommen.

Im hohen Gras, hinter Hügeln oder Baumreihen, kann man sich fremden Blicken so gut entziehen, es ist eine Nische umfassender nudistischer Freiheiten und gedanklicher Vielfalt. Es fühlt sich schon lange nach Hochsommer an in der ungewöhnlichen, maienen Hitze, in dieser schönsten aller Jahreszeiten („Wenn der Sommer nicht mehr weit ist, und der Himmel violett, weiß ich, dass das meine Zeit ist, weil die Welt dann wieder breit ist, satt und ungeheuer fett.“). Wenn ich mich dort reinfallen lasse, kommt mir zualler-erst nur das Eine in den Sinn. Körperlichkeit, Sinnenrausch. Gedanklich und virtuell physisch bist Du meistens bei mir. Ich stelle mir immer irgendwas vor („Wichtig ist, dass man bereit ist, und sein Fleisch nicht mehr versteckt. Nur man darf nicht träge sein und darf nicht ruh'n, denn genießen war noch nie ein leichtes Spiel …“). Ich bin meistens bereit für Dich.

Wenn man flach ausgestreckt so daliegt, blickt man in ein dichtes, wirres Geflecht von Halmen, ein Dickicht sich kreuzender Diagonalen und parallel laufender Geraden; durch die Ähren sieht man auf das frische Grün der Bäume, die den Horizont begrenzen, darüber der blaue Himmel, manchmal mit weißen Wölkchen („Dass der Himmel heut so hoch steht, kann doch wirklich kein Versehen sein“). Die lebenslang eingefangenen Sommer- und Natureindrücke werden chaotisch aktiviert, innere Bilder und Empfin-dungen kommen und gehen, unplanbar wild durcheinander. Hellgrün, dunkelgün, blau, weiß. Die Landschaft leuchtet in herrlichsten Farben, alles ist ganz klar, kontrastreich und scharf. Ein ästhetischer Genuß. Totales Wohlbefinden bis zu einer Art Ekstase kann sich einstellen in bestimmen Momenten, wenn alles wundersam zusammenfließt.

Wie bezaubernd einfaches Gras sein kann. Richtiges Gras. Eine Pflanze, die man sonst ja kaum beachtet. Was vor allem daran liegt, daß man sie kaum in natürlichem, ausgewachsenen Zustand sieht, weil alles immer rasch geschnitten wird. Die zarten, mitunter hauchdünnen Stengel und kunstvoll komponierten Ähren, die sich im Wind und gegen den hellen Hintergrund so deutlich abheben. Gras kennt man eben meist nur als Rasen. Aber dieses Jahr hat sich wohl niemand darum gekümmert, die Pflanzen durften wachsen bis Ende Mai, konnten dabei hemmungslos Samen bilden in unvorstellbarer Menge. Manchmal erkennt man im Gegenlicht die luftig schwebenden, transparenten Samenwolken, die langsam wie goldener Staub über die Wiesen in den Wald ziehen. Vielleicht liegt es auch an dieser mich umgebenden Fruchtbarkeit, daß ich dort immer ans Vereinigen und Vermehren denken muß. Wahrscheinlich liegt es aber einfach an Dir und an nichts sonst. An Deiner Abwesenheit. Gedanklichen Anwesenheit. Der Phantasie von Dir. Einer Sommerphantasie gerade. Man versteht, warum dies die Zeit der Liebe, der Zeugung, der Nacktheit, des Begehrens ist – das Übermaß sinnlicher Eindrücke bewirkt einen dauer-haften Erregungszustand und unbeherrschtes Verlangen. Nach Dir vor allem. Weil Du nicht da bist, wird es schlimmer von Tag zu Tag. Die erregenden Eindrücke des Frühlings und des Lichts verbinden sich mit der lustvollen, schmerzhaften Sehnsucht nach Dir zu einem kurzzeitigen, fragilen Gefühl intensiver, gesteigerter Existenz.

Ich stelle mir vor, wie Du kommst – und wie Du zu mir kommst (Wir trafen uns auf einer Wiese – Wir trafen uns tief in einem Garten…). Ja, das stelle ich mir auch vor :-). So wie Du zu mir kamst in´s Speicherzimmer letztes Jahr im Elternhaus. Diesmal aber im hellen Sonnenlicht, bekleidet nur mit einem leichten Sommerkleid. Es hat gedauert, bis Du mich gefunden hast, denn ich hatte Dir das Versteck nicht verraten. Plötzlich stehst Du vor und über mir, verschwitzt, keuchend, aber guter Dinge, lachend. Ich sehe unter das Kleid, sehe die hellen Beine und darüber die sich unter dem Stoff deutlich abzeichnenden Körperfomen. Ich brauche nur nach oben zu greifen, um Dein Höschen langsam nach unten und dann erst über dem einen, und dann über dem anderen Schuh zu ziehen, wobei Du mir behilflich bist, indem Du einmal das rechte, und einmal das linke Bein leicht anhebst. Du weißt genau, was Du anrichtest. Mit diesem Blick, mit Deiner Erscheinung, mit dem Lächeln. Gedanklich bist Du bereits ganz ausgezogen, auch wenn das Kleid Dir ausgezeichnet steht und Du es deshalb anbehalten darfst, ausnahmsweise :-).

Du sagst nicht viel, stellst den Korb ab und setzt Dich einfach auf mich, ziehst das Kleid trotz der großen Hitze tatsächlich und erwartbar nicht aus, aber das ist auch überhaupt nicht nötig, ganz im Gegenteil. Ein perfekter Sichtschutz für alles, was das Gras nicht verbergen kann. Du küsst mich so intensiv und lässt Dein Becken so leicht und fordernd auf mir kreisen („When she loves, she's like a samba, that swings so cool and sways so gentle …“), daß Stöpsel schon sehr bald und ohne erkennbares Hindernis mühelos seinen Weg in Dein Inneres findet und sich dort lange bewegend wohlfühlt. Ich binde Dir ein Kopftuch um. Ich könnte jetzt an das Bild mit dem verheißungsvollen, runden Etwas denken, die prallen Samenbüschel vor glühender Sonne. Doch das Denken hört auf, ich spüre nur noch den Sommer, den leichten Wind, die mich blendenden Lichtstrahlen, all Deine Wärme und Feuchtigkeit, die Haut Deiner Beine und den Flüssigkeitsfilm auf dem Rücken, den weichen Busen, Deine Lippen auf meinen, die Zunge dazwischen. Du bewegst Dich so gekonnt und überzeugend, ich bin so entzückt, und halte es trotzdem irgendwie aus, länger als gedacht, kürzer als wünschenswert. Und dabei immer irgendeine Musik, eine Melodie im Kopf. Nichts um uns herum hat jetzt irgendeine Bedeutung, ich bin ganz in und bei Dir. - Als dann nachher alles noch viel feuchter und glitschiger ist, liegst Du erschöpft auf mir, das Kleid schützt Dich und Du schützt mich vor der Sonne. Ich bin voll von Glückseligkeit. Glücklich, daß Du bei mir bist, so nah, daß Du auf mir liegst, daß ich Dich physisch fassen kann. Doch das reicht nicht, das war noch lange nicht genug, wir werden es bald schon wieder tun („Genug ist nicht genug, genug kann nie genügen“) - nach Keksen und Wein, den Du vorausschauend mitgebracht hast. Noch ist es hell.

Genießen ist wohl tatsächlich kein leichtes Spiel, denn es bedarf immer einer bewußten Anstrengung, eines Arrangements, eines Wollens, eines Sich-Mühe-Gebens, einer Verabredung. Und manchmal – wie bei uns – muß man zusätzlich auch noch einen hohen Preis zahlen für den Genuß. Doch ich brauche Dich nicht nur für den Genuß, ich brauche Dich auch für den Alltag. - Später werde ich jede Stelle Deines Kör-pers, bis in die verborgendsten Winkel, nach Zecken absuchen. Und wo die Augen nicht hinkommen, werden Zunge und Finger aushelfen. - Wir dösen vor uns hin, bis eine Spinne über Deine Füße läuft …

Im Wind bewegen sich die Ähren so leicht, das Halmdickicht wirkt wie eine komplexe Komposition, wenn man es von unten aus der Froschperspektive betrachtet. Überall krabbelt irgendwelches insektiges Viehzeug herum – intensives, fernes Leben. Haufenweise phantastische Bildmotive um mich herum - allerdings nur als Rohmaterial. In seiner schlichten, natürlichen Existenz gibt das Gras optisch nicht viel her, aber durch die richtige Verfremdung werden zusammen mit dem passenden Hintergrund (Sonne vor allem) Kunstwerke daraus – eine andere, imaginäre, aber genauso existente Wirklichkeit. Ein aufregen-des Paralleluniversum. Ganz einfach kann man mit ein bißchen Technik Neues entstehen lassen, das verführerische Assoziationen heraufbeschwört, einen in wundersame Gestimmtheit versetzt. Die Quint-essenz des Frühlings, des Sommers, der Liebe, der Entrücktheit, der Leichtigkeit, des Lebens vielleicht. Paradigmatische Verdichtung auf das Wesentliche, den bestimmenden Eindruck. Ich lasse eine große Anzahl Rohmaterial entstehen für später. Etwas, daß die spezielle Frühlings- und Sommeratmosphäre dieser Stunden einfängt, so gut es geht. Aus Halmen und Himmel, Licht und Sonne werden in einigen Tagen Halluzinationen: die Idee von flirrender Hitze, intensiven Düften, rauschhafter Liebe; sinnliche Stimuli, die widerum Ausgangspunkt diverser traumhafter Szenen werden können. Bilder, die eine Ahnung von dem, was möglich ist, konservieren für die dunkle Zeit, die kommen wird in ein paar Mona-ten; wenn man die Erinnerungen braucht wie Frederik, um sich und die Anderen zu wärmen mit imma-teriellen Notwendigkeiten.

Bilder, die Zustände simulieren, in denen Hitze, Drogen (Rauschmittel wie Liebe, Alkohol, Psilocybin) und Sinnenreize einen die Welt nur noch verzerrt, intensiv oder wie im Nebel erleben lassen. Die Silhouetten verschwommener Ähren, zuckender Lichtreflexe, phallische Muster vor dem hellen Rund (ich habe sol-che Sehnsucht nach Dir). Die mutierten Rispen und Samenkörner werden dunkel oder bunt mit glut-rotem Rand, vereinen sich zu abtrakten Mustern mit unbestimmbar erotischer Bedeutung, teilweise wirken sie wie weggebrannt im Zentrum der alles vernichtenden Glut. Es ist kaum vorhersehbar, was passieren wird, welcher Wandel entstehen wird, welche Visionen sich verfangen und wieder ausgespuckt werden vom Nervenlabyrinth. Zwei dieser Verfremdungen, dieser Phantasiebilder hast Du bereits erha-lten. Sie sind rot-orange, weil das die Hitze und Intensität mediterraner Nachmittage nachempfinden lassen soll.

Das leichte, wogende Gras,  manchmal silbrig leuchtend im Gegenlicht, eingefasst von hohen Bäumen, verborgen hinter Zweigen, undeutlich im reflektierenden Sonnenlicht, hat etwas Wildes und Roman-tisches. Ich denke an unbeschwerte Stunden mit Dir, an Liebe und Glückseligkeit, und vieles mehr. Der Wald ist aber nicht weniger aufregend jetzt. Es gibt einige Stellen unter den Bäumen, die wirken ganz bezaubernd im Hell-Dunkel-Wechselspiel, wie ein Stück Paradies in all dem Normalen, Gewöhnlichen. Nichts ist schöner als ein Buchenwald im Mai bei Sonnenschein, habe ich neulich gehört (die Erkenntnis muß sich allein auf das Naturerlebnis beziehen, denn selbstverständlich gibt es noch Schöneres :-) – aber nicht viel) - und eine ungemähte Wiese im Mai, muß ergänzt werden.

Wenn ich durch den schattigen Wald radele, durch Mosaike aus strahlenden, leuchtend hellgrünen und dunklen, kulissenartig hinter- und voreinander angeordneter Blätterschichten, luftig, und hoch, raum-greifend und majestätisch, brauche ich keine Drogen, um in einen rauschhaften Zustand zu gelan-gen. Tanzende Lichtflecken überziehen Waldboden und Baumstämme. Es riecht nach Harz oder nach Linden, oder anderen, unbekannten Düften. Manchmal muß ich anhalten, um dieses Bild, diese bota-nischen Kathedralen voller Verheißung und Erhabenheit und das Kaleidoskop sich verteilenden Lichts auf mich wirken zu lassen. Und manchmal befürchte ich, alles nicht mehr auszuhalten. Es ist zu viel, ich habe das Gefühl, überzulaufen, wahnsinnig zu werden vor lauter Verlangen, Vermissen, von zu vielen, zu intensiven Eindrücken dieser Frühlingswelt und den Entzugserscheinungen. Eine permanente innere Anspannung beherrscht mich, ein Druck, nur schwer auszuhalten. Ich müßte runterfahren, den ganzen sinnlichen, emotionalen und gedanklichen Input reduzieren. Abschalten, Verschnaufen, Erholen. Aber das kann man auch später tun. Wenn man das alles überlebt zumindest. Stattdessen stacheln mich diese ganzen Reize nur noch mehr auf, scheinen sich gegenseitig zu potenzieren.

Weiter radelnd sieht man irgendwann zwischen den Baumzweigen die große Wiese in hellem Grüngraubraun. Die Silbouetten der Blätter dort am Waldesrand sind alle herzförmig – warum wohl? Wenn man dann den Weg verlässt, den ausgetrockneten Graben überspringt und den schmalen Pfad zwischen Brennesseln und Brombeerranken unter den Bäumen nimmt, steht man nach ein paar Schrit-ten plötzlich im gleißenden Sonnenlicht, vor sich die strahlend daliegende Weite, die an einen See erinnert, gesäumt vom dichten Tiefgrün der prallen, kühlenden Laubbäume. Der Eindruck wird verstärkt von der durch das hohe, geschnittene Gras entstandenen dicken Heuschicht, die sich unregelmäßig wellenförmig auf dem Boden ausbreitet wie die von leichtem Wind geformte Oberfläche eines Gewäs-sers. Es ist ein beeindruckendes, erhabenes Gefühl, dort zu stehen und das alles mit halb geschlossenen Augen vor sich zu sehen.

Ich war letzte Woche fast jeden Abend etwa ein Stündchen dort. Bin hinausgelaufen, als würde ich auf dem Wasser über einen See gehen, bis in die Mitte, weit weg von aufdringlichen Beobachtern, und habe dort mein Lager aufgeschlagen in der Spätnachmittagssonne. Meist war ich allein. Allenfalls sah man ein paar Spaziergänger oder Radler weit weg zwischen den Bäumen. Es war angenehm ruhig. Nur leise Sommergeräusche: ein paar Vögel zwitscherten, ein kleines Motorflugzeug kreuzte den Himmel, die Rufe zweier Bussarde, die nach Nahrung suchend durch die Luft wirbelten, sonst nichts. Intensiver Geruch nach frischem Heu (also nicht nach Sperma, obwohl das jetzt auch in Ordnung wäre). Die Farben des Heus, das Glitzern der trockenen Halme im Sonnenlicht, die Hitze auf der Haut selbst zu dieser Zeit noch; diese träge, sommerliche Atmosphäre. Ein Meer aus trockenem Gras. Nichts mehr zum Verstecken, dafür große helle Weite und Wärme. Ich lese etwas, kann mich aber nicht konzentrieren. Du bist wie immer und permanent in meinem Kopf, ich bin dauererregt während dieser Stunden dort draußen in Sonne und fruchtiger Natur. Euphorie und Verzweiflung wechseln sich ab.

Doch dann, seit einem Abend, ist auch das wieder vorbei. Kurz vor meinem Aufbruch erschienen zwei lärmende Traktoren mit Heuballen-Pressmaschinen (die heißen sicher anders). Staub- und Spreuwolken ließen an einen Sandsturm denken. Nun liegt das ganze Heu zu Quadern geformt lose über die Wiese verteilt. Der Zauber ist vorbei, das weiche Bett verschwunden. Ich hätte mal übernachten sollen dort unterm Sternenhimmel („wenn der Sommer nicht mehr weit ist, und der Himmel ein Opal, weiß ich, dass das meine Zeit ist, weil die Welt dann wie ein Weib ist, und die Lust schmeckt nicht mehr schal“) ...