Der Rückblick oder: eine Möglichkeit
Teresa war gerade 16 geworden und ein hübscher, lebenslustiger Teenager, voll Tatendrang und Neugier auf die Welt, doch auch sie wurde nicht verschont von den alterstypischen emotionalen Wirren dieser Jahre. Wenige Wochen zuvor hatte sich ihr zwei Jahre älterer Freund Jonas von ihr getrennt - eine kurze, aufwühlende Liebe, von der sie dachte, sie müßte für die Ewigkeit halten. In tiefer Trauer und zurückgezogen verbrachte sie die Tage und Wochen danach. Ihrer Mutter mit dem ungewöhnlichen nordischen Namen Insa, der sie sich nie wirklich nah gefühlt hatte und deren Verhältnis zueinander sich seit einigen Jahren im Verlauf ihrer pubertären Gemütsverfassungen weiter abkühlte, wollte sie sich nicht anvertrauen und ihren getrennt lebenden Vater sah sie zu selten und meist in Begleitung seiner neuen Geliebten. Auch von ihren Freundinnen fühlte sie sich unverstanden in ihrem grenzenlosen Kummer und Selbstzweifel. So verbrachte sie die Nachmittage und Wochenenden meist abwesend bei langen Spaziergängen oder alleine in ihrem Zimmer.
Die Sommerferien standen an - eine Zeit, auf die sie sich vor Kurzem noch so sehr gefreut hatte beim Gedanken an den ersten Urlaub ganz allein mit ihrem Liebsten, die jetzt aber als eine lange und öde, schmerzhaft ablenkungsarme Phase vor ihr lagen, von der sie nicht wußte, wie sie sie ausfüllen sollte. Ein bereits vor Monaten angedachter, aber aus fehlender Dringlichkeit nicht konkret geplanter mehrtägiger Besuch bei ihren Großeltern stellte sich nun als eine wesentlich verlockendere Alternative dar als ursprünglich erwartet und sie stürzte sich plötzlich umtriebig in die notwendigen Vorbereitungen und Absprachen.
Zu ihrer Großmutter Lenchen - eigentlich Lena - hatte sie schon lange ein über die Jahre zunehmend intensiveres Verhältnis ent¬wickelt, auch wenn sie sich nicht sehr oft sahen. In gewisser Weise fühlte sie sich ihr ein wenig wesens¬verwandt, ohne dass sie die Gründe hierfür genauer hätte benennen können. Oma Lenchen war bereits über 80, aber noch sehr rüstig. Sie liebte an ihr besonders eine etwas unkonventionelle und spezielle, gar nicht omamäßige Art. Kochen und Hausarbeit mochte sie zum Beispiel gar nicht, auch wenn sie es sich meist nicht anmerken ließ und sich in das Notwendige fügte. Sie legte keinen großen Wert auf ihr Äußeres und nahm sich überhaupt nicht schrecklich wichtig. Dafür war sie trotz ihrer manchmal etwas melancholischen Ader und grüblerischen Veranlagung von einer ansteckenden Herzlichkeit, Liebenswürdigkeit und Unbeschwertheit im Umgang mit ihr, die sie sonst in ihrer Familie durchaus vermisste. Teresa mochte ihre weiße Wuschelfrisur und ihre etwas versponnene und zerstreute Art, die ihr selbst auch zu eigen war. Manchmal schien sie in ihrer eigenen Welt zu leben und sich wenig um die praktischen Dinge des Lebens zu scheren. Sie konnte spannend Geschichten erzählen und sehr gut zuhören.
Vor allem konnte man sich mit Oma Lenchen hervorragend über bestimmte Musik unterhalten: Songs vom Beginn des Jahrtausends - Indie und Britpop nannte sich diese Strömung. Aktuelle Musik war nicht mehr ihr Ding, aber mit den alten Bands kannte sie sich wirklich erstaunlich gut aus. Da sich Teresa inzwischen selbst für diese, ihr bis vor Kurzem völlig unbekannte Stilrichtung zu interessieren begann, nutzte sie die Expertise der alten Dame noch lieber als das nahezu enzyklopädische, aber sie überfordernde Wissen ihres Großvaters, um sich diese neue Welt zu erschließen. Meistens gingen die Beiden dann die große analoge Musiksammlung der Großeltern durch - sie hatten noch haufenweise CDs und ein paar alte Geräte, mit denen man sie abspielen konnte - und die Oma gab Hörproben ihrer Lieblingsstücke zum Besten. Von Oasis zum Beispiel, aber auch vielen unbekannteren Gruppen. Oma war außerdem wie Teresa ein großer Beatles-Fan. Von den Stones wollte sie hingegen überhaupt nichts wissen; sie wurde richtig ungehalten und abweisend, wenn Teresa auch nur den Namen erwähnte, was sie etwas verwunderte ... Manchmal spielten sie auch zusammen Klavier.
Die Großeltern bewohnten ein kleines Reihenhäuschen in einem Vorort von Münster - früher zu nah, um sich aus den Augen zu verlieren, aber zu weit weg, um regelmäßige Besuche stattfinden zu lassen. Das war durch den technischen Fortschritt und ihr Alter aber inzwischen kein Problem mehr. Der Aufenthalt dort war für Teresa jedes Mal etwas Besonderes. Sie liebte diesen ganz speziellen Geruch der Wohnung, mit dem sie seit frühester Kindheit vertraut war, und die alten Möbel und den schönen großen, etwas verwilderten Garten mit den Blumen, Obstbäumen und liebevoll gepflegten Beeten, in dem sie schon als Kind gespielt hatte.
Voller Vorfreude schlief sie am Abend vor ihrer Abreise ein und tauchte rasch in einen tiefen, traumreichen Schlaf. Es war ein sonniger Hochsommertag, als sie in der Einfahrt der Großeltern landete. Die Haustür stand wie immer offen; als sie die Küche betrat, kam ihr Oma Lenchen schon strahlend und reichlich verschmutzt aus dem Garten entgegen, wo sie gejähtet und frisches Gemüse geerntet hatte, und um-armte sie fest und lange. Teresa konnte sich nicht erinnern, die Oma jemals nicht in ihrem Garten beschäftigt gesehen zu haben, den sie über alles liebte.
Gerne wäre sie jetzt als erstes mit Ihr auf den Speicher oder in den Keller gelaufen, um in altem Krimskrams zu stöbern, denn Oma war eine passionierte Sammlerin und deshalb fanden sich in vielen Winkeln des Hauses für sie interessante Reliquien vergangener Tage. Aber heute war für derartige Abenteuer keine Zeit, da sich Onkel Mika für den Abend etwas überraschend angekündigt hatte und deshalb neben dem Mittagessen weitere Vorbereitungen zu treffen waren. Teresa rannte noch rasch ins Obergeschoß, um Opa Michael zu begrüßen, der wie immer - umgeben von einem gigantischen Bestand alter Tonträger - mit Kopfhörern in seinem bequemen Ohrensessel saß und sie, vertieft ins Hören verschienster Lieder und bereits leicht schwerhörig, erst wahrnahm, als sie sich eher brüllend als rufend in seinem Gesichtsfeld bemerkbar machte.
Danach assisitierte sie der Oma beim Kochen. Obwohl sie sich bemühte, fröhlich zu wirken, konnte sie ihre gedrückte Stimmung nicht gänzlich verbergen. Als sie nach dem gemeinsamen Mittagessen noch bei einem Kaffee alleine zusammensaßen, nachdem Opa sich zwecks einiger kleiner Erledigungen, die er noch alleine verrichten konnte, verabschiedet hatte, sprach die Oma, die ein feines und untrügliches Gespür für die Stimmungen ihrer Mitmenschen hatte, sie darauf an. "Nichts Besonderes. Nur Bezie-hungsmist, nicht der Rede wert." Teresa versuchte, ihren Worten etwas möglichst Beiläufiges und Gelangweiltes zu geben. Doch die Oma war dadurch erst recht hellhörig geworden: ihre gefürchtete Neugierde und großmütterliche Anteilnahme gepaart mit dem instinktiven Gefühl, ein paar sachdienliche Ratschläge und Trost oder Zuspruch spenden zu können, trieben sie an.
Schließlich erzählte ihr Teresa von dem für sie so plötzlichen und überraschenden Ende und der ganzen damit einhergehenden Verzweiflung. "Das war es dann wohl. Ich werde keinen anderen Menschen je wieder so lieben können wie Jonas. Es war perfekt; eine zweite Chance werde ich nicht bekommen. Und mit einer Notlösung werde ich niemals leben." "Da kann ich Dich wirklich beruhigen", versuchte Oma Lenchen zu trösten. "Natürlich fühlt es sich schrecklich an. Wie das Ende der Welt. Aber es gibt nicht nur einen auf der Welt, den man lieben kann. Ich kannte mal Jemanden, der vertrat die Theorie, dass es je nach Grad der gegenseitigen charakterlichen Übereinstimmung und Zuneigung zumindest Hunderte von Menschen gibt, in die man sich verlieben kann und zu denen man perfekt passt. Gesetzt den Fall natürlich, man trifft sie und sie sind noch oder wieder frei." Doch davon wollte ihre Enkeltochter nichts wissen. "Kannst Du das denn nicht verstehen? Du warst doch früher sicher auch mal verliebt gewesen. In Opa, aber vielleicht noch andere." Die Oma reagierte darauf nicht weiter, deshalb hakte Teresa nach. Sie hatte Interesse an diesem Thema gefunden und plötzlich die Idee, sich mit ihrer Oma einmal wie mit einer besten Freundin hierüber zu unterhalten. Eigentlich wußte sie ja gar nichts vom Liebes- und Beziehungsleben ihrer Großeltern und wenn sie die beiden so sah, konnte sie sich nur mit viel Phantasie ausmalen, dass sie auch mal jung waren und verliebt und vielleicht mal Liebeskummer hatten. Irgendwie passte das nicht zu diesen alten Menschen, die genau wie ihre inzwischen verstorbenen Großeltern väterlicherseits im behäbigen, geruhsamen, routinierten täglichen Umgang nichts mehr von Erotik oder Leidenschaft erkennen ließen.
"Oma, erzähl doch mal ein bischen davon, wie das bei Dir damals war. Ich weiß eigentlich gar nichts von Deiner Vergangenheit. Ich meine, als Du noch richtig jung warst. War Opa Dein erster Freund? Wann warst Du das erste Mal richtig verliebt?" "Das ist sehr lange her", erwiderte die Oma etwas unwillig, sich auf dieses Gespräch einzulassen. Aber Teresa lies nicht locker. "Komm, daran wirst Du Dich doch noch erinnern. Du erinnerst Dich doch sonst auch an jedes Detail. Selbst von Ereignissen, die ewig zurückliegen." "Das weiß ich wirklich nicht mehr so genau. Die erste Liebe. Das wird so in Deinem Alter gewesen sein. Es war mehr ein albernes Anhimmeln. Aber dieses erste ein-bißchen-Verliebtsein war immer nur einseitig gewesen, daraus hat sich nie etwas entwickelt. Im Gegensatz zu Dir war ich in dem Alter ein rechtes Mauerblümchen. Ich war schüchtern und hielt mich für unattraktiv. Erst mit 19 oder zwanzig gab es zwei erste kurze, ernsthaftere Liebeleien, aber das war auch nach wenigen Wochen wieder vorbei."
"Und dann ist Opa aufgetaucht?", versuchte Teresa das Gespräch zu beschleunigen und in die gewünschte Richtung zu lenken. "Ja, so ungefähr", entgegnete Oma Lenchen und wurde noch einsilbiger. "Was heißt denn ungefähr? Mann Oma, jetzt mach es doch nicht so anstrengend und lass Dir jedes Wort aus der Nase ziehen." "Du bist aber wirklich neugierig." "Ja, natürlich. Ich will ja nur wissen, ob Du auch so viel Pech hattest wie ich oder ob mir das Schicksal gerade ganz besonders übel zusetzt. Mama erzählt gar nichts darüber; ich glaube, es ist ihr irgendwie sehr unangenehm. Was habt ihr Erwachsenen nur immer damit? Das ist doch nichts Peinliches. Ich habe Dir doch auch gerade von Jonas und mir berichtet. Jetzt ist es nur fair, wenn Du auch mal auspackst!" Nun mußte die Oma lachen. "Nein, das Schicksal spielt Dir nicht besonders übel mit, meine Liebe. Ich hatte auch ziemlich Pech gehabt oder besser wir, wenn Du willst." "Wie meinst Du das?" "Mit 21 war ich schon sehr verliebt. Aber das war eine ziemlich unglückliche und sinnlose Geschichte. Er war neun Jahre älter und Pathologe. Später allerdings Humangenetiker. Eigentlich überhaupt nicht mein Typ." "Aha." "Am 10. April 1999 haben wir uns auf einer Party in Bochum kennengelernt, wo ich damals ja studiert habe, und direkt ziemlich wild miteinander rumgeknutscht." Die Oma lächelte dabei ein wenig gedankenverloren in sich hinein. "Aber Oma, sowas hast Du tatsächlich mal gemacht, ich bin entsetzt!", zog Teresa sie ein bißchen auf. "Und Du weißt das Datum noch so genau? Ich weiß schon jetzt nicht mehr, an welchem Tag ich Jonas das erste Mal getroffen habe." Sie machte ein frustriertes Gesicht. "Ja, das war schon etwas Besonderes." Oma lächelte weiterhin und es schien, als schaute sie dabei durch Teresa hindurch oder in sich hinein.
"Und dann: wie ging es weiter?" "Es ging gar nicht weiter, denn er hatte eine Freundin, von der er sich nicht trennen wollte. Deshalb war es nach knapp einem Jahr schon wieder vorbei." "Immerhin - ein ganzes Jahr", sinnierte die Enkeltochter. "Das habe ich noch nicht geschafft. - Und Du warst richtig verliebt?" "Ja, schon. Ziemlich sehr sogar. Ist bei einem so jungen, unerfahrenen Ding ja auch nicht schwer, wenn der Richtige kommt." "Wow, Du hattest direkt das Gefühl, er ist der Richtige?" "Nicht sofort denke ich, aber schon recht schnell. Wir haben uns in jeder Beziehung gut verstanden - wenn er mich nur gewollt hätte." "Wie bei mir", warf Teresa kurz ein. "War er denn nicht in Dich verliebt?" "Ich wußte es damals nicht wirklich - er wollte sich ja nicht von seiner Freundin trennen und war auch ein recht verschlossener Typ - zumindest in Gefühlsangelegenheiten; ich kam mir eher wie seine Gespielin und netter Zeitvertreib vor. Der Altersunterschied machte ihm wohl vor allem zu schaffen, was mich überhaupt nicht störte. Im Nachhinein gesehen war er aber vermutlich auch verliebt. Es ist einfach unheimlich blöd gelaufen. Falsche Zeit bzw. falsches Alter. Und einige Mißverständnisse."
"Und dann hat er Dich einfach sitzen lassen wie Jonas jetzt mich? Obwohl er Dich liebte? Typen sind doch alle echt scheiße!" "Letztlich habe ich mich getrennt, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Natürlich wollte ich nicht, hatte aber keine andere Wahl, wie es mir schien." "Hey, das ist ja wenigstens souverän" erwiderte Teresa anerkennend, "dass Du Dir das nicht hast gefallen lassen. Aber wenn es eine große Liebe war, auch nicht leicht, oder? Wie hast Du das durchgehalten? Ich fühle mich gerade wie gelähmt und habe zu nichts mehr Lust" "Nein, es war nicht leicht. Mir ging es sicher mindestens ähnlich wie Dir jetzt. Eine sehr, sehr ätzende Zeit war das." "Ätzend", amüsierte sich Teresa, "mal wieder ein typisches Oma-Wort. - Ihr habt Euch also getrennt bzw. Du hast Dich getrennt. Einfach so und das war es?" "Nun, es ging öfters hin und her, aber als ich mich dann richtig getrennt hatte und er sich nicht mehr meldete, war es das."
"Aber diese Geschichte ist wirklich lange her, meine Gute, und auch nicht spannender als die Dinge, Die Du erlebst oder noch erleben wirst. Laß uns lieber über Erfreulicheres reden. Dein Onkel Linus kommt heute Abend ja auch zu Besuch, da sind noch einige Vorbereitungen zu treffen. Die sollten wir jetzt mal in Angriff nehmen." "Das eilt aber nicht so", entgegnete Teresa selbstsicher. "Und spannender wird das auch nicht. Er wird mit Opa wieder stundenlang über Musik fachsimpeln und dann werden sie im Keller verschwinden, um eine Session durchzuziehen ... Jetzt lenk mal nicht ab von unserem Thema!" "Ich lenke gar nicht ab", entgegnete die Oma mit gespielter Entrüstung, "aber da gibt es nicht viel mehr zu erzählen." "Doch, ganz bestimmt", intervenierte Teresa. "Ich dachte immer, Opa wäre Deine erste große Liebe gewesen. Aber da gab es ja schon vorher Einen." "Opa hat mich letztlich aus dem Sumpf herausgezogen, in dem ich nach der Trennung gelandet war. Und dafür bin ich ihm sehr dankbar."
Doch der Teenager duldete keine großmütterlichen Ablenkungsmanöver. "Und dann habt ihr Euch nie mehr wieder gesehen?" Die Oma starrte gedankenverloren in die Ferne. "Nein, nie wieder". Beide schwiegen eine Zeit lang. Doch dann schien es sich die Oma anders überlegt zu haben und sie korrigierte sich: "Nun ja, wenn Du es genau wissen willst und das willst Du ja anscheinend: wir hatten schon noch mal Kontakt zueinander. Aber das war 15 Jahre später und ist eine andere und viel längere Geschichte." "Oh, das klingt aufregend" entgegnete Teresa, "diese längere Geschichte will ich auch noch hören. Viel¬leicht kann ich dabei etwas lernen." "Das glaube ich kaum", meinte Oma bestimmt, "es ist eher ein abschreckendes Beispiel, dass Du Dir nicht zum Vorbild nehmen solltest. Ich hoffe nicht, daß Du mal Ähnliches erleben mußt. Außerdem muß ich noch aufräumen, die Wäsche machen, mit dem Kochen beginnen und einiges andere von meiner To-do-Liste abarbeiten." "Oma! Jetzt spann mich nicht so auf die Folter, das ist ja unerträglich. So viel Zeit haben wir noch." "Ok", gab sich die Oma nach einer Denkpause geschlagen, "aber ich mache es kurz. - Ich habe all die Jahre danach natürlich noch an ihn gedacht. Nicht immer, aber oft genug." "Auch, als Du Opa dann kennengelernt hast?" "Ja, leider. Auch dann. Das ist nie ganz verschwunden, obwohl ich einen unheimlichen Groll auf ihn hatte und ihn eigentlich nie wiedersehen wollte. Er hat mir zum 30. Geburtstag eine Karte geschrieben, aber ich habe nicht geantwortet. Irgendwann habe ich es aber nicht mehr ausgehalten und ihm an seinem 47. Geburtstag eine Mail geschrieben. Eine fatale Entscheidung." "Eine Mail?" Teresa blickte ihre Oma fragend an. "Ah, ich glaube, ich weiß, was Du meinst. Hatte ich neulich mal in einem alten Film gesehen. Dass war so ähnlich wie Briefe schreiben ganz früher, nur digital auf so kleinen Geräten." "Ganz genau, meine Liebe." Oma Lenchen mußte schmunzeln. "Ganz altmodisch sozusagen. Und er hat geantwortet. Und nicht nur einmal. Und er war leider genauso anziehend wie 15 Jahre zuvor und kein Ekelpaket, wie ich es gehofft oder gefürchtet hatte. Von da an haben wir uns geschrieben. Immer öfter. Irgendwann mehrmals täglich. Jeden Tag fast. Jahre lang. Und uns dabei auch rasch wieder ineinander verliebt. Obwohl wir das gar nicht geplant hatten und anfangs auch nicht wahrhaben und akzeptieren wollten. - Aber das darfst Du niemandem erzählen."
"Unglaublich", entgegnete Teresa sichtlich bewegt. "Aber was kann man sich denn so lange schreiben?" "Das weiß ich jetzt auch nicht mehr genau. Liebende haben sich immer etwas zu erzählen, heißt es doch. Wahrscheinlich war es bei uns auch so." "Wie romantisch!" Teresa sah ihre Oma etwas verträumt an. "Wie in einem Film. Das es so etwas auch im echten Leben gibt. Jonas und ich haben uns nie geschrieben, aber wer macht das denn heute noch? - Hast Du diese Mails noch irgendwo? Du hast sowas Schönes doch sicher aufbewahrt wie man früher Liebesbriefe zu Päckchen zusammenband und irgendwo versteckte. Die würde ich gerne lesen." "Nein, ich wüßte nicht, wo die sein sollten. Die habe ich bestimmt nicht mehr." "Das glaube ich nicht. Sowas schmeißt man doch nicht weg! Und Du hebst doch auch sonst alles auf, Du chronische Sammlerin. Nichts wird hier im Haus weggeschmissen." "Ausdrucken konnte ich sie nicht, das wäre zu gefährlich gewesen. Und die alten Mails habe ich längst nicht mehr. Er hat mir mal eine Sammlung unserer gesamten Korrespondenz als PDF geschickt, aber wo die ist, weiß ich nicht. Und wenn, gibt es heutzutage bestimmt kein Programm mehr, um die Datei zu lesen." "PDF sagst Du? Von dem Format habe ich noch nichts gehört. Ich werde mal recherchieren, wie man so etwas lesen kann, das interessiert mich sehr." "Ich weiß aber gar nicht, ob ich möchte, dass Du das liest, selbst wenn ich sie irgendwo finden sollte. Das ist doch ziemlich intim, meine Liebe, denkst Du nicht? Möchtest Du, dass ich lese, was Du und Jonas Euch erzählt haben?" "Auf keinen Fall", erwiderte Teresa bestimmt. "Aber das ist etwas anderes. Bei Dir liegt das ja Jahrzehnte zurück. - Außerdem haben wir uns ja nichts geschrieben", grinste sie. "Trotzdem. Höchstens, wenn ich gestorben bin." "Das dauert mir zu lange! Schau erstmal, ob Du die alten Briefe finden kannst. Und gib Dir Mühe dabei!"
"Wie lange habt ihr Euch denn genau geschrieben?" "Über fünf Jahre." "Wahnsinn. Und ihr habt Euch nie gesprochen und nie mehr getroffen, nur geschrieben?" Die Oma zögerte. "Natürlich haben wir uns irgendwann auch getroffen. Und selbstverständlich nicht nur einmal." Sie zwinkerte ihrer Enkeltochter etwas verschwörerisch zu und schwieg nachdenklich. "Weiter!" Teresa wurde ungeduldig. "Wo habt ihr Euch denn getroffen und wie war das?" "Wo sich heimlich und verboten Liebende halt so treffen: mei-stens in Hotels natürlich. Berlin, Essen, Bochum. Andere Orte, die mir jetzt nicht mehr einfallen. Später sogar in Münster. Es war ein nicht unerheblicher logistischer Aufwand, den wir trieben. Und es war direkt wie früher. An der körperlichen Anziehung hatte sich über die Jahre nämlich leider auch nichts geändert." "Oma!" Jetzt mußte Teresa lachen. "Das hätte ich niemals von Dir gedacht! Dass Du mal so verrückt warst. Einen heimlichen, verbotenen Liebhaber. Eine richtige Affäre. Und so lange!" "Affäre würde ich es nicht nennen. Es war viel mehr. Eigentlich waren wir für einander bestimmt. Wir gehörten zusammen. Aber die Umstände hatten sich gegen uns verschworen." Teresa folgte der Erzählung ihrer Oma mit gebanntem Blick. "Es war sogar noch schlimmer", behauptete Oma, die jetzt in Fahrt gekommen war. Sie senkte die Stimme und schaute sich vorsichtshalber nochmal um. "Wir haben sogar versucht, ein Kind zu zeugen." "Ihr habt nicht mal verhütet? Wie krass ist das denn?" "Pssst", machte die Oma und hielt einen Finger vor den Wund, obwohl sie ja ganz allein im Zimmer waren. "Hat aber nicht geklappt, was wahrscheinlich auch gut war." "Oma, Du warst ja eine ganz Wilde. Ein richtiger Draufgänger. Eiskalt durchgezogen. Respekt!" Teresa sah ihre Großmutter mit einer Mischung aus Bewunderung und Erschrecken an. Beide schwiegen etwas und hingen ihren Gedanken nach.
Dann meinte Teresa unvermittelt: "Und was war mit Opa? Wußte er nichts davon?" "Nein, natürlich nicht. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihm davon zu erzählen. Es wäre zu verletzend gewesen. Das hatte er nicht verdient. Nach allem, was er für mich getan hat. Deshalb ist das, was ich Dir hier fatalerweise erzähle, auch absolut vertraulich und ich gehe davon aus, dass Du Deinen Mund halten kannst und uns nicht auf unsere alten Tage in's Unglück stürzt, wenn Du mich schon zu solchen Geständnissen nötigst. Ich hoffe, Du enttäuscht mich nicht. Ich habe noch nie jemandem davon erzählt." "Noch nie? Du erstaunst mich immer mehr. Wie hältst Du das denn aus?" Teresa verstummte kurz, bis sie den fragenden Blick der Oma bemerkte. "Nein, natürlich sag ich nichts. - Ich bin verschlossen wie ein Grab" grinste sie dann mit tiefer, bedrohlich klingender Stimme. "Aber richtig toll war das nicht, oder? Letztlich hast Du Opa jahrelang betrogen und es ihm nicht mitgeteilt. Sowas soll man eigentlich nicht machen. Das ist nicht fair. Eigentlich hätte er es wissen müssen." "Ich weiß, meine Liebe. Aber grau ist alle Theorie ... Ich wollte unsere Familie nicht zerstören." "Aber in gewisser Weise hast Du sie doch auch so zerstört, wenn Du einen anderen liebst, aber nicht dazu stehen konntest und alles heimlich tatest." "Das wird ja eine richtige Inquisition!" Oma Lenchen wirkte leicht gereizt. "Ich will meine Entscheidungen hier jetzt nicht noch mal begründen. Glaube mir, ich bzw. wir haben es uns damals nicht leicht gemacht. Wir haben alle gelitten." "Aber Du hättest Dich auch anders entscheiden können. Es lag an Dir, oder? Zumindest auch an Dir." "Ja, das stimmt", entgegnete Oma Lenchen etwas müde. "Das heißt, Opa hat wirklich nichts mitbekommen davon? Er weiß es bis heute nicht?" "Nein. Und das soll bitte auch so bleiben. Es würde ihn sehr verletzen ohne etwas zu nützen." "Oh, oh, Oma. Du bist aber wirklich kein gutes Vorbild" flachste Teresa amüsiert und nicht wenig verwundert.
Teresa überlegte etwas und die Oma versuchte die Stille zu nutzen, um in die Küche zu verschwinden und das Gespräch hiermit elegant zu beenden. "Sag mal Oma" durchkreuzte Teresa ihren durchsichtigen Plan. "Die Mama, die wurde ja im Januar 2017 geboren. Ist die dann gar nicht von Opa, sondern von Deinem zum zweiten Mal Geliebten, dessen Namen Du mir noch nicht mal verraten hast?" Sie schien schockiert zu sein. "Johann hieß er. Nein, Deine Mutter ist von Opa." " Ganz sicher?" fragte Teresa ungläubig, "oder sagst Du das jetzt nur, um mich zu beruhigen?" "Nein, ganz sicher. Ich schwöre." "Hattet ihr Euch da denn schon mal getroffen?" "Ja, aber erst zwei Mal und es passte zeitlich nicht." "Das weißt Du aber noch sehr genau dafür, dass das jetzt" - sie rechnete - "44 Jahre her ist". "Ich bin mir absolut sicher, Du kannst beruhigt sein. Und schau Dir doch mal die Ähnlichkeit zwischen Deiner Mama und Opa an, da gibt es wirklich keinen Zweifel." Teresa schien einigermaßen beruhigt zu sein. "Trotzdem sehr verrückt, liebe Oma." "Das stimmt", entgegnete die Oma in ihrer typischen Art. "Gewünscht habe ich mir das nicht. Es wäre besser gewesen, wenn wir direkt zusammen geblieben oder uns gar nicht erst begegnet wären. Er war ja eigentlich meine große Liebe".
"Und trotzdem habt ihr Euch dann ein zweites Mal getrennt?" "Ja", bestätigte Oma. "Es ging irgendwann einfach nicht mehr. Dieses Doppelleben und diese Perspektivlosigkeit haben uns beide kaputt gemacht. Irgendwann konnten wir einfach nicht mehr und haben aufgegeben". "Aber das kann doch nicht sein!", meinte Teresa fast empört. "Ihr habt Euch geliebt und nach 15 Jahren wiedergefunden und dann trotzdem wieder verlassen? Wie konntet ihr das aushalten?" "Es war sehr übel, aber wir sahen erneut keine Alternative. Hätten wir unsere Ehepartner verlassen und unsere Familien kaputt machen sollen?" Teresa dachte erneut nach. "Das ist aber jetzt nicht romantisch, sondern sehr pragmatisch gedacht." "Manchmal muß man pragmatisch sein und Entscheidungen treffen." "Ich weiß nicht. Ich möchte in diesen Dingen niemals pragmatisch sein. Wenn man mal Einen gefunden hat, den man wirklich liebt, ist das doch wie ein Wunder und man muß seinen Gefühlen doch auch folgen. Man muß doch ein Happy End versuchen!" "Ich weiß nicht, ob es ein Happy End geworden wäre. Und dann gäbe es den Opa ja auch nicht. Zumindest nicht hier." "Das stimmt natürlich. Wäre auch blöd. Aber den Opa Michael würde es ja trotzdem geben, ich hätte dann eben noch einen zweiten Opa Johann." "Stief-Opa", korrigierte Oma. "Ok, Stief-Opa, auch egal. Und vielleicht sogar Halbonkel oder -tanten." "Hätte, hätte, Fahrradkette", kommentierte die Oma nur.
"Wie habt ihr Euch denn das zweite Mal getrennt", bohrte Teresa schnell wieder. "Recht unspektakulär, wenn ich mich recht erinnere. Wir haben irgendwann beschlossen, uns nicht mehr zu treffen und aufgehört, uns zu schreiben. Es war sehr bitter, weil wir uns so daran und aneinander gewöhnt hatten, dass wir eigentlich gar nicht mehr konnten ohne den Anderen. Aber wegen der Erschöpfung ging es dann irgendwann trotzdem. Er hat mir nochmal zu Weihnachten geschrieben und die gesammelte Korrespondenz geschickt. Es waren über sechstausend Seiten. Ich habe auch noch ein- oder zweimal geantwortet. Dann haben wir definitiv aufgehört, sind verstummt und wieder ganz in unsere früheren Leben zurückgekehrt." Der Oma standen jetzt doch Tränen in den Augen und auch Teresa hätte vor Rührung und Ergriffenheit beinahe weinen müssen. "Ach, lassen wir das", fügte Oma noch hinzu, "alte Erinnerungen. Die machen nur sentimental. Ich will mich damit eigentlich nicht mehr beschäftigen." "Dafür scheint Dir diese Geschichte aber doch noch sehr präsent zu sein und nahe zu gehen", bemerkte Teresa leicht verlegen. "Und dann habt ihr nichts mehr von einander gehört? Bis heute nichts mehr? Nie wieder?" Oma schien sich wieder gefasst zu haben. "Nein, nichts mehr. Das war wohl nicht möglich. Nach zwei Mal Trennen konnnten wir nicht nochmal anfangen." Beide schwiegen erneut eine Zeit lang. "Ich weiß nicht, wo er heute wohnt und was er macht. Nicht mal, ob er überhaupt noch lebt." "Das ist wirklich unfaßbar und ganz furchtbar", sagte Teresa. "Sowas könnte mir glaube ich nicht passieren. Wenn Jonas mich so lieben würde wie ich ihn, würde ich alles darum geben, mich nicht zu trennen." "In Deinem Alter ist das etwas anderes, aber wenn man sich schon anderweitig gebunden hat, wird es weitaus komplizierter. Vielleicht verstehst Du das später besser, wenn Du selbst mal Kinder hast." Teresa schien nicht überzeugt. "Das kann sein. Aber man muß es trotzdem versuchen, finde ich!"
"Und wie ging es dann mit Opa weiter?" Oma wirkte wie abwesend und schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Deshalb wiederholte Teresa sie nach ein paar Minuten noch einmal zögernd. "Es ging weiter", antwortete Oma schließlich ein wenig mechanisch und kraftlos. "Er wußte ja von nichts und zwischen uns hatte sich nicht viel geändert." "Das kann ich gar nicht glauben. Diese lange Affäre, oder wie immer Du es nennst, und tausende von diesen Mails müssen doch Spuren hinterlassen haben. Es kann doch nicht genauso gewesen sein wie vorher." Oma Lenchen wirkte unwillig, viel mehr dazu zu sagen. "Es mußte eben gehen. Und dann geht es auch!" "Warst Du denn nicht sehr traurig darüber? Hast Du es nie bereut, dass ihr nicht richtig zusammengekommen und zusammengelebt habt und Euch immer nur heimlich treffen konntet?", wollte Teresa noch wissen. "Eine schwierige Frage, mein Kind. Dazu kann man viel und nichts sagen. Natürlich war es schrecklich. Und eine grausame Entscheidung. Aber man kann Einiges durchste¬hen, wenn man muß." "Das ist ja wirklich eine supertraurige Geschichte. Wie Casablanca. Kein Happy End." "Ja, super traurig", pflichtete Oma bei. "Man kann eben nicht alles haben." "Das stimmt. Aber man sollte doch versuchen, das Richtige zu bekommen. Denkst Du denn, es war die richtige Entscheidung?" "Woher soll ich das denn wissen?", meinte die Oma etwas schwerfällig. "Man hat doch nur ein Leben und kann deswegen manchmal nur eine Option wirklich ausprobieren. Die Alternative kann ich nur erahnen. Doch diese Ahnungen sind vielleicht nur eine Illusion" - "Ich hatte ja kein schlechtes Leben davor und danach", ergänzte sie ihr Resümee später noch. "Aber 'nicht schlecht' ist doch nicht genug! Damit kann man doch nicht zufrieden sein, wenn mehr möglich wäre! Man muß doch auch mal was wagen im Leben", protestierte sie aufgebracht. "Hast Du nicht mal gesagt, dass Du früher ein Idealist warst?"
In diesem Moment hörte man Schritte von der Verandatür. Opa Michael kam in Arbeitsmontur aus dem Garten. "Na, ihr beiden", begann er beim Hereintreten, "was treibt ihr Quasselstrippen denn? Frauengespräche bestimmt." Die beiden Angesprochenen wendeten ihre Köpfe gleichzeitig Richtung Tür und schauten den alten Mann stumm mit fragenden, erstaunten und nachdenklichen Blicken an. Etwas verdutzt fuhr der Opa fort: "Ich habe inzwischen mal etwas im Keller aufgeräumt. Bevor Linus kommt, muß ich noch duschen, mich umziehen und ein paar Kleinigkeiten in der Stadt besorgen." Es herrschte eine nur kurze, aber von allen Dreien als sehr unangenehm empfundene Stille. "Er wird sicher wie immer zu spät kommen. Das hat er von seiner Mutter geerbt", grinste Opa in der Hoffnung, die befremdliche, gedrückte Stimmung durch einen kleinen Scherz aufzulockern. Doch die beiden Frauen reagierten darauf nicht. Leicht irritiert stutze er etwas, gab sich dann aber einen Ruck und durchquerte den Raum Richtung Treppe. "Wie dem auch sei, ich mach dann mal weiter." "Und ich muß mich dringend um's Abendessen kümmern" behauptete Oma Lenchen plötzlich. "Hilfst Du mir, Tereschen?" Sie stand abrupt auf und verschwand in der Küche, aus der man schon bald geschäftiges Klappern vernahm. Teresa blieb noch etwas sitzen und folgte ihrem Großvater mit den Blicken, während er das Zimmer langsam gehend und mit einem unverständlichen Grummeln verließ. Dann stand sie ebenfalls auf und ging zu Oma in die Küche.