31.07.   Ein offenes Fenster in Triest

Triest hat keine spektakulären Sehenswürdigkeiten zu bieten. Der Altstadt sieht man die über fünfhun­dertjährige habsburgerische k.u.k.-Vergangenheit an - sie erinnert etwas an Wien und andere österrei­chische Städte. Pompöse, monumentale Gebäude, klassich oder reichlich ornamental verziert, wechseln sich mit schlichteren kleinen Häusern an engen Gassen ab. Immer wieder brutal dazwischen gehauene gammelige Betonklötze. Obwohl ich nie dort war und mich vorher nie mit der Stadt beschäftigt hatte, waren doch bestimmte Bilder im Kopf, die vielleicht aus alten Bildbänden oder Erzählungen stammten. Es sind Bilder von Art-Deko-Plakaten der 20er Jahre, der Belle Epoque / Fin de Siecle und des Jugendstils, wo sich Triest als mondäner Bade-/ Urlaubsort für die europäische Oberschicht präsentierte in schönen, stilisierten, sinnlichen Bildern mit leuchtenden Farben. Diese Ästhetik und die ganzen damit zusammen­hängenden Assoziationen treffen dann auf eine Wirklichkeit, die dem nicht so standhalten kann und ich frage mich, was wichtiger ist: die Wirklichkeit oder das Phantasieprodukt. Vorgestern las ich in einem Nachruf auf die gerade verstorbene Schriftstellerin Brigitte Kronauer: "Die Gegenwelt der Poesie also erdreistet sich, der Wirklichkeit einen Vorschlag zu machen. Zur Güte, aber vor allem zur Schönheit. Mit Bennschem Pathos gesprochen: zur Göttlichkeit; ganz eventuell in der Hoffnung, ihr wahreres Modell zu sein." Der Wirklichkeit Vorschläge zu machen, wie sie sich ändern könnte; die Poesie als bessere Realität: eine schöne Idee. Auch ich finde es manchmal angebracht, die Wirklichkeit nur als Vorlage, als Ideenge­ber oder Inspiration für eine bessere, idealistische Welt zu betrachten, die die Essenz von allem Schönen und Interessaten und Wichtigen in konzentrierter Form in sich vereinigt. Die erfundene Wirklichkeit wird dem ästhetischen Anspruch jedenfalls oft viel gerechter. Und wir Menschen sind nicht verpflichtet, uns immer mit der realen Wirklichkeit zufrieden zu geben, sie so hinzunehmen, wie sie ist, sondern können uns eigene Wirklichkeiten nach unseren Vorstellungen schaffen. In unserem so kurzen, durch Raum und Zeit begrenzten Dasein erfahren wir nur einen winzigen Bruchteil dessen, was prinzipiell möglich ist. Kunst und insbesondere die Literatur sind in der Lage, dieses Manko etwas zu kompensieren: mit ihrer Hilfe können wir eine Fülle von Dingen virtuell erleben, die uns sonst völlig verschlossen bleiben würden.

Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn wir zusammen dort gewesen wären. Viel zu tun gibt es nicht. Man kann durch die Straßen schlendern, auf Hügel mit Ausblick steigen, die Adria anschauen, nach schönen Kleidern suchen :-), sich vor der schwülen Hitze in Cafes flüchten oder Stunden in einem von mehreren klassischen Kaffeehäusern sitzen, um zu schreiben, zu plaudern oder zu lesen. Beim Rückweg Richtung Piazza della Borsa sah ich plötzlich weiter oben, es wird wohl der dritte Stock gewesen sein, dieses offene, von Lamellenläden eingerahmte Fenster mit den bogenförmig herabhängenden, leicht im Wind sich bewegenden Vorhängen. Die benachbarten Läden geschlossen, daneben das dunkle Regen­rohr. An der Hauswand die Schattensilhouette des links gelegenen Gebäudes. Dieser Anblick löste bei mir augenblicklich eine Fülle von Gedanken und Träumereien aus.

Natürlich hätten wir uns ein Zimmer im Zentrum der Altstadt genommen, wenn wir zusammen dort wären, denn nur so wäre es möglich, die Spaziergänge immer wieder kurz- oder langzeitig zu unterbre­chen, wenn das Bedürfnis intensiveren körperlichen Austausches zu mächtig würde, um sich noch auf Anderes konzentrieren zu können. Warum nicht dieses Zimmer am Piazza di Cavana? Es scheint perfekt geeignet für diesen Zweck durch Lage und vermutete Beschaffenheit. Ich stelle mir vor, wie es innen wohl eingerichtet sein mag, was sich dort oben dunkel zwischen den Vorhängen befindet. Sicher ein schlichter, weiß gestrichener Raum, frisch duftend nach Lavendel vielleicht; sauber, aber etwas gealtert mit bröckelndem Putz und Stockflecken an den Decken, alten Lichtschaltern und einer kleinen Decken­funzel im Zentrum. In der Mitte ein mäßig großes, aber ausreichend dimensioniertes Bett mit einem alten, französischen Gestell auf Metallfüßen und einem filigran verzierten, leicht rostigen Kopfteil. Darauf ein dünnes, weißes Laken und zwei weiche, weiße Kissen. An beiden Seiten einfache Nachttischchen mit kleinen Leselampen. Vielleicht ein oder zwei Stühle in den entgegengesetzten Ecken. Neben dem Bett nur schmale Gänge, kaum nutzbar außer für ein bischen Gepäck und abgeworfene Kleidungsstücke. An der linken Zimmerseite eine kleine Tür zum engen Bad mit altmodischer Einrichtung, die Spülung hoch an der Wand. Über dem Waschbecken mit zwei Wasserhähnen ein kleiner runder Spiegel, eingefasst von einem verzierten, türkisfarbenen Metallrahmen.

Und dann das Fenster mit den seitlich herabhängenden, etwas verschossenen dünnen Vorhängen. Man kann es nachts geöffnet lassen, um den erhitzten Körpern den Genuß von kühlender Luft zu gönnen. Aber auch am Tage braucht man es nicht zu schließen, da ein Eindringen ungebetener Gäste aufgrund der Höhe unmöglich ist und auch Niemandem von den umliegenden Häusern ein direkter Blick in den Raum gewährt wird. Vorausgesetzt, die Gäste sind nicht übermäßig laut in der Nacht und tagsüber nicht sehr viel lauter als die geschäftigen Hintergrundgeräusche der umliegenden Straßen und Plätze. Morgens fallen die Sonnenstrahlen durch das Fenster und erleuchten Teile des Bettes und der ruhenden Körper zwischen ddn Laken, später hüllt das matte Abendlicht den Raum in einen blassen Dämmer. Nachts zeichnet das gelbliche Licht der Straßenlaternen abstrakte Muster an die Decken oder, sollten die Vorgänge geschlossen sein, flackernde, bizarre Formen. Wenn die Sonne mittags zu heiß den Raum flutet, kann man die Läden schließen, und ein Raster aus feinen Lichtstreifen läuft über das Bett und seine Bewohner, bricht sich auf dem zerwühlten Stoff, läuft entlang der Körperkurven und die Wände hinauf.

Ich sehe uns durch die Straßen ziehen, bis es uns wieder hinaufzieht in diesen ruhigen, und doch im Zentrum der Lebendigkeit liegenden Raum. Mal nüchtern, mal durch Wein oder Anderes erheitert. Wie Du vor mir die enge Treppe hochsteigst, mal sicher und mal schwankend; wie ich Dich trotz Deiner leichten Proteste hier und dort anfasse - oder Dich schon im ersten Stock gegen mäßigen Widerstand küsse, in der Dunkelheit. Wie wir im Zimmer übereinander herfallen und uns erst im Bett ganz oder nur halb ausziehen können. Oder uns beherrschen voll Erwartung und ich Dich bitte, Dich selbst und langsam vor mir auszuziehen bis Du dastehst, völlig nackt bis auf eine Kette und einen Ring, seitlich erhellt die weiße Haut. Wie wir uns dann langsam küssen, ich Deine Hüften umfasse und mich eine Ganzkörperer­regung durchdringt. Wie Du anfangs voll Sorge und Hemmung wegen des offenen Fesnters Dich zierst, bis Du seine Vorzüge zu schätzen weißt. Ich sehe uns in wilden und ruhigen, heftigen und leichten Vereinigungen, in endlosen Küssen und Umarmungen. Oder in- und übereinander ruhend, mit einem feuchten Film auf der Haut, der im leichten Windzug angenehm kühlt. Ich höre Dich leise plaudern, sehe Dein Gesicht und die Formen des Busens, der Arme, von Bauch und Schenkeln schwach angedeutet im Dunkel der Nacht, weich gezeichnet im nachmittäglichen Dämmer. Inhaliere all die ständig wechselnden Düfte. Spüre Dich überall an und in mir. Bin glücklich, daß wir zusammen sind, draußen in der Stadt unterwegs oder drinnen ganz allein. Es gibt keine Zeit und keine Struktur. Alles ist leicht, wir schweben dahin. Sind nie richtig laut, niemand wird auf uns aufmerksam, beachtet uns. Außer auf der Straße manchmal, weil wir so anders wirken. Wir essen und trinken zwischendurch, in den Pausen. Und wenn es reicht - vorerst - gehen wir zurück in die Stadt, irgendwohin. Es ist eigentlich egal, wohin.

Solche Phantasien können mich überkommen beim Anblick eines offenen Fensters nach wochenlanger Abstinenz ... Triff mich bald wieder, Süße! Ich vermisse Dich. Sehr!