DORT ist Dein MUND oder Die Stadt der Liebe
Ich ziehe die Tür hinter mir zu, laufe die paar Stufen hinunter und trete auf die Straße. Es ist noch dunkel und angenehm frisch, ich bin angemessen gekleidet. Bald wird es um sechs Uhr bereits hell sein und die Vögel zwitschern munter. Eine schöne Zeit so früh morgens, wenn man eigentlich noch im Bett liegt, wenn kaum jemand unterwegs ist, der Tag noch unverbraucht vor mir liegt. Einer dieser ganz besonderen Tage. Es ist mal wieder ein Rike-Tag. Ich bin müde, fühle mich aber ausgesprochen gut. Auf dem Weg zum Bahnhof denke ich an all die vergangenen Rike-Tage. Sie ähneln sich und sind doch immer etwas anders. Und immer aufregend. Deshalb ist es bedeutungslos, ob sie gleich oder anders sind. Auch ständige Wiederholung kann wundervoll sein. Déjávu-Erlebnisse auf den Straßen, unter den von Laternen angestrahlten Baumkronen am Bonner Talweg und in der Meckenheimer Allee, die ich raschen Schrittes passiere. Es sind eigentlich keine Déjávus, denn ich habe das ja wirklich schon so oft erlebt. Es ist eher die Wiederkehr einer immer ähnlichen Realität. Zu allen Jahreszeiten. „Und ewig grüßt das Murmeltier“, passt besser. Zu oft schon, um die einzelnen Male noch auseinanderhalten zu können – die Treffen verschwimmen mehr und mehr zu einem diffusen Gesamteindruck. Wie die repetitiven Ereignisse in anderen Langzeitbeziehungen auch …
Im Laufe der Monate haben sich die Abläufe weitgehend standardisiert – man könnte auch sagen optimiert. Es läuft immer in der gleichen Weise ab, nachdem wir den passendsten Ort für unsere Begegnungen gefunden haben, aber trotzdem weit entfernt von jeder Routine. Was sehr schön ist. Denn so weiß ich schon, worauf ich mich freuen kann, ich muß nicht mehr viel nachdenken und Energie in die Planung investieren. Alles hat seinen Platz und seine Zeit. Ein wundervoller Tag liegt vor mir, ganz gleich, ob es regnet oder nicht (aber regnen tut es nie). Die äußeren Gegebenheiten spielen keine Rolle; das meiste spielt sich sowieso im Inneren ab und immunisiert mich gegen jede Unzulänglichkeit der Umwelt.
Ich freue mich schon so sehr darauf, wenn er beginnt, ein solcher Tag, daß ich fast in Panik gerate, weil er dann auch nach einer bekannten, festgelegten Abfolge von Ereignissen und in einer absehbaren, viel zu kurzen Zeitspanne wieder vorbei sein wird. Und unklar ist, wann er sich wiederholt. Ich weiß schon, daß es wieder viel zu lange dauern wird, bis er sich wiederholt. Aber daran darf ich jetzt nicht denken, denn ich möchte die kostbare Zeit eines solchen Tages nicht mit blöden Gedanken verplempern. Jetzt nur all das Schöne zulassen, sich gedanklich auf die kommenden Stunden konzentrieren, schon mal die nächsten Stationen auf dem Weg zu Dir antizipieren, die mich jetzt erwarten: Bahnhof, Zug, Bahnhof, Zug, Laufen, U-Bahn, Laufen, Ankommen, Einchecken, auf Dich warten, Dich umarmen, Dich küssen ... Es ist zauberhaft, das jetzt noch alles vor mir zu haben. Dazu das befriedigende Gefühl, alles richtig geplant zu haben. Daß es läuft, daß fast nichts mehr dazwischen kommen kann. Gut, irgendwas kann immer passieren: ausgefallener Zug, ein Kind schwer krank, Unfall auf dem Hinweg. Aber bisher ging es immer gut. Das gibt etwas Zuversicht. Es wird auch heute klappen!
Der Wecker ging wie immer an solchen Tagen um Viertel vor Fünf. Nein, es sind drei Wecker, denn ich darf auf keinen Fall verpennen. Und das kann um diese Uhrzeit leicht passieren. Auch wenn ich wie immer eher schlecht schlafe. Was aber den Vorteil hat, mir bestimmte und erwartbare Erlebnisse schon detailreich vorstellen zu können, um das Beisammensein dadurch virtuell zu verlängern. Ich muß auf Nummer sicher gehen. Es wäre eine Katastrophe zu verschlafen. Wo wir uns so selten sehen. Bei dem ganzen Aufwand und der Vorbereitung, die jedem Treffen vorausgeht. Ich würde es mir nicht verzeihen. Also ein Wecker und ein Handy und das Pad. In zeitlich versetztem Abstand, damit es nur einmal klingelt, wenn ich direkt wach werde, und nicht die ganze Familie geweckt wird. Dann waschen, duschen, anziehen. Der Rucksack wurde schon am Abend gepackt, aber ein paar Kleinigkeiten müssen morgens noch rein. Der Orangensaft zum Beispiel. Eventuell die Kopfhörer und ein Sektfläschen. Klamotten. Bloß nicht den Ring vergessen! Um etwa Viertel nach Fünf das Frühstück zubereiten, um spätestens halb Sechs mit dem Essen zu beginnen. Sich konzentrieren. Die letzten Dinge einpacken und nochmal prüfen, ob nichts vergessen wurde. Kerzen, Feuerzeug? Zähneputzen. Um spätestens zehn nach Sechs aus dem Haus. Ein fantastisches Gefühl, daß es tatsächlich wieder soweit ist. Manchmal beobachte ich mich aus der Perspektive eines Dritten, wie ich all diese Dinge tue. Schon am Abend diese Vorfreude. Der Countdown läuft. Es kann fast nichts mehr schiefgehen. Die sowieso schon große Sehnsucht steigert sich nochmal im Bewußtsein, daß Erlösung naht. Ein freier Arbeitstag - offiziell oder geschwänzt, und es wird garantiert ein bezaubernder Tag. Zumindest ein bezaubernder halber Tag, denn am frühen Nachmitag ist es ja spätestens wieder vorbei.
„I don´t know where I am, I don´t know where I´ve been, but I know where I want to go.“ Auf dem Weg vielleicht noch die Ohrstöpsel rein und etwas Musik hören. Unsere Lieder. Die Stücke und Bands, die gerade dran sind. Killers und Sea Girls zum Beispiel. Und vieles mehr. Ein Brandbeschleuniger, ein Katalysator, ein Intensitätsverstärker, diese ganze Musik, die mich noch mehr an Dich denken lässt. Dann steigert sich das erhebende Gefühl zu einer Schwerelosigkeit, einem traumhaften Schweben durch die erwachenden Straßen. Dauergänsehaut. „You know, I´m on your side. This feeling won´t go.“
Ein paar Minuten warten auf dem Gleis. Der ICE 553 nach Berlin ist meistens pünktlich. Etwas Fernweh regelmäßig. Da könnten wir jetzt zusammen hinfahren ein paar Tage. Berlin, unsere zweite Heimat nach Dortmund ;-). Dann ist fast eine Stunde nichts zu tun außer dem wohligen Empfinden, Dich bald zu umarmen und zu küssen und den vielen Gedanken an all das. Unsere ganze gemeinsame Welt, dieser ständig gefährdete Kosmos steigt in mir auf und füllt mich aus. Der Waggon gleitet mit dezenter Beleuchtung durch die Nacht, es ist ruhig und entspannt, viele Plätze noch unbesetzt. Langsam wird es heller, vielleicht ist ein Sonnenaufgang zu erwarten. Man erkennt noch nicht, ob der Himmel blau oder grau sein wird. Die Landschaft zieht vorbei. Ich kann nach draußen schauen und nichts denken oder die Gedanken schweifen lassen. Wenn ich zu viel an Dich denke und Stöpsel damit anstecke, wird es nicht besser ... Ich kann es sowieso kaum erwarten und möchte gleichzeitig, daß die Fahrt endlos dauert, um den Tag zu strecken und die Vorfreude so lange wie möglich genießen zu können. Gibt es etwas, worüber wir heute auf jeden Fall sprechen müssen? Ich rufe mir unsere letzten Gespräche, die Mails der vergangenen Tage in Erinnerung.
Auch in Wuppertal läuft alles völlig routiniert ab. Bin fast pünktlich da, eine halbe Stunde Aufenthalt. Das reicht für das gelassene Besorgen aller notwendigen Accessoires, die noch fehlen, selbst bei leichter Verspätung. Es ist die perfekte Verbindung. Vom Gleis Zwei in die große Bahnhofshalle. Dort helle Beleuchtung, es sieht neu und frisch aus. Passanten auf dem Weg zur Arbeit kreuzen in alle Richtungen. Ich gehöre nicht dazu, gönne mir selbst verordnete Freizeit, muß mich an diesem hektischen Treiben nicht beteiligen. Mich erwartet heute etwas viel Besseres als für sicher fast alle dieser ahnungslosen Menschen, die mich für ihresgleichen halten. Die Liebste ist nicht mehr fern, sicher auch bald unterwegs. Jetzt erst zum REWE to Go, um zwei Fläschchen Sekt und Orangenplätzchen zu besorgen. Danach zu Kamps für zwei belegte Brötchen und ein Wecken. Alles wird verstaut. Im Rucksack ist gerade noch Platz für die Verpflegung, mehr passt nicht mehr rein. Etwas Rumbummeln, dann zurück auf Gleis Zwei. Es ist dämmrig und kühl, nur wenige Leute stehen herum. Erst kommt noch der Regionalzug, aber IC 2443 nach Dresden ist schon angekündigt. Ich fühle mich inzwischen richtig zu Hause in diesen Zügen, alles ist so vertraut und immer mit diesen wundervollen Assoziationen verbunden. Wenn ich hier sitze, geht es mir gut und wird mir bald noch besser gehen. Das Liebchen ist bald bei mir. Ein erhebendes Gefühl umgibt mich wie eine Wolke.
Ich stelle mir vor, was Du, noch in der Ferne, in diesen Augenblicken wohl gerade machen wirst. Sicher bist Du schon lange aufgestanden. Vielleicht gerade Frühstück. Ylvi anziehen. Oder im Bad. Ich weiß es nicht, Deine morgendlichen Rituale sind mir unbekannt. Obwohl wir uns schon wieder so lange kennen und so viel Zeit mit dem Anderen verbringen – meist ohne daß er dabei ist, wissen wir so wenig von unserem Alltag. Es sind mehr Ahnungen als Wissen. Das empfinde ich immer als so eigenartig: von meiner Liebsten weiß ich viel und doch so wenig – ihre ganze Alltagswelt ist für mich nur eine Vermutung. Was sie den ganzen Tag tut, was sie mit wem spricht – all das ist eine Black Box. Es ist so unnatürlich. Es passt einfach nicht zusammen.
Im Doppeldeckerwaggon nach oben, ein Platz am Fenster. Eine diffuse Erregung steigt in mir auf. Es ist, als ob mein Körper spürt, daß Du nicht mehr weit bist. Daß wir gleich wieder zusammenfinden werden. Unglaubliche Gefühle. Ich vermisse Dich so – oft ist es kaum auszuhalten. „I realized that I need you, and I wonder if I could come home.” Jetzt nur noch eine halbe Stunde bis Dortmund. Dortmund, die Stadt der Liebe. Das ist sie für mich geworden. Hätte ich früher als völlig abwegige Vorstellung abgetan. Gerade Dortmund. Wir treffen uns ausgerechnet immer in der Stadt, in der Du fast zehn Jahre gelebt hast. Muß es ausgerechnet Dortmund sein? Es gäbe doch Alternativen. Tatsächlich ist es Zufall, aber wie so oft ein merkwürdiger Zufall. Die Stadt ist für uns Beide gut erreichbar, wir können uns schon um neun Uhr treffen und nicht erst um halb Zehn oder Zehn wie in Münster. Es gibt ein unkompliziertes Hotel mit kurzfristig verfügbaren Tageszimmern. Und das ist alles, aber auch das Wichtigste, was wir brauchen: verfügbare und erschwingliche Tageszimmer. Deshalb Dortmund. Der Ort war mir bis vor Kurzem fast unbekannt. Nichts Besonderes verband ich mit ihm. Ruhrpott, Industrie, Trostlosigkeit. Erst Du hast mir glaubhaft versichert, daß es dort schön sein kann und ich hab Dir natürlich geglaubt. Du mußt es schließlich wissen, wenn Du so lange dort gelebt hast und es die glücklichste Zeit Deines Lebens war. Trotzdem blieb es für mich abstrakt. Eine Deiner Schwestern lebt dort und ein Vetter von mir. Doch jetzt ist Dortmund auch für mich eine besondere Stadt. Unglaublich eigentlich. Daß wir gerade diesen Ort miteinander teilen. Nirgendwo außer in Bonn bin ich jetzt häufiger. Sie ist verbunden mit intensiven Begegnungen, Berührungen, Austausch. Das Zentrum unseres Zusammenseins. Aber das betrifft ja nicht die Stadt, sondern nur die Zimmer eines Hotels. Und den Weg vom Bahnhof dorthin. Den Rest kenne ich nicht und er ist mir soweit egal. Die Örtlichkeit ist also im Prinzip austauschbar. Es ist völlig gleichgültig, wo sich das Hotel mit den bezahlbaren Tageszimmern befindet. Es könnte genauso gut irgendwo anders sein. Und manchmal ist es das ja auch. Wichtig ist nur das Zimmer und daß Du dort in diesem Zimmer bist. Deshalb denke ich auch nicht an Deine fast zehn Jahre dort, wenn ich ankomme und den vertrauten Weg gehe. Zumindest nicht viel. Ich nehme die Umgebung dort sowieso kaum war, bin gedanklich ganz auf die kommenden Stunden fokussiert. Mein Weg zum Hotel hat nichts mit Deiner Vergangenheit in dieser Stadt zu tun, es sind – fast – völlig getrennte Dinge.
Ankunft Hauptbahnhof. Immer wildes Gewusel. Das Portemonnaie stecke ich lieber in die Jackentasche und lasse es nicht im Rucksack, sicher ist sicher ... Jetzt keine Zeit verlieren. Schnell zum Ausgang, hoffentlich steht die Fußgänger-Ampel gerade auf grün. Ich quere die Straße, dann die Treppen hoch, nach links, noch ein Stück, dann an der U-Bahn-Station Kampstraße die Treppen runter, nach links, nochmal nach links, Treppe runter, kurz warten, dann in die U43 Richtung Wickede. Gleich ist es also so weit. Von Dir bisher keine SMS. Ist das ein gutes Zeichen? Bestimmt. Wenn etwas wäre, hättest Du Dich gemeldet. Zumindest, wenn Du bei Bewußtsein bist ... Oder Du hast eine erlösende Nachricht geschickt: „Bin eben losgefahren“ oder so. „❤“. In der Bahn immer etwas Hunger, deshalb schon mal ein paar Orangenplätzchen. Bin angenehm nervös und aufgedreht. Es fühlt sich an wie kurz vor einem Rendezvous, einem aufregenden Date, bei dem man noch nicht genau weiß, was einen erwartet. Eigentlich absurd, denn wir kennen uns inzwsichen wirklich gut. Zumindest in dieser Hinsicht. Aber gelassen bin ich nie vor diesen Treffen. Die Haltestelle „Berliner Straße“ (auch so ein merkwürdiger Zufall …) nicht verpassen. Aufpassen beim Aussteigen: jetzt bloß nicht noch überfahren werden ...
Rasch die kurze Strecke zum Stays. Steht der hellblaue Ford schon dort? Nein. Schnell einchecken. Jedes Mal dieses etwas unangenehme Gefühl an der Rezeption. Was denken die jungen Damen dort wohl von einem Typen wie mir? Von uns Beiden? „Bitte noch den Namen der Begleitung eintragen.“ Es ist doch völlig offensichtlich, warum wir uns hier verabreden, da ist doch nicht zu kaschieren. Die müssen doch denken, daß wir uns hier regelmäßig zum Vögeln treffen. Das ist falsch und richtig zugleich. Es muß auf Außenstehende wirken, als seien wir sehr bedürftig – als würde eine große Not uns immer hierhertreiben. In gewisser Weise stimmt das ja auch. Große Not. Schöne Not. Wie ein Teenagerpärchen, das kein eigenes Zuhause hat und auf verschwiegene, heimliche Plätze für ein Stelldichein angewiesen ist. Wir haben auch kein eigenes Zuhause. Nie gehabt. Leider. Es ist natürlich sehr aufregend, sich an fremden, heimlichen Orten zu treffen. Manch Langzeitpaar würde sich eine solche Aufregung in ihrem Liebesleben sicher wünschen. Wir haben diese schöne Aufregung etwas unfreiwillig. Es gibt deshalb auch überhaupt keine Abnutzungserscheinungen; trotzdem wünsche ich mir etwas Anderes für die Zukunft. Ich fühle mich beobachtet von den zu unterstellenden Gedanken des Personals – auch der Putzfrauen in den Fluren. Endlich die erlösende Übergabe der Zimmerkarte. Die Treppe nach oben in eines der höheren Stockwerke. Die in mattes Licht getauchten Flure strahlen eine sterile Atmosphäre aus, sie riechen nach starken Reinigungsmitteln und sind mit standardisierten Schwarzweiß-Fotos prominenter Filmgrößen dekoriert. Ist aber völlig unwichtig.
Die kleinen Zimmer bestehen fast nur aus Bett – man kann sich gar nicht woanders aufhalten . Ich komme mir wie konditioniert vor, denn diese eigentlich unpersönlichen Räume erregen mich schon durch den Anblick ihrer konformen Einrichtung, auch wenn Du noch gar nicht anwesend bist. Sofort und zügig alle notwendigen Vorbereitungen treffen, denn wenn Du da bist, ist dafür keine Zeit mehr. Nicht mal für Kleinigkeiten ist dann Zeit. Wenn man sich viele Tage oder gar Wochen lang nicht gesehen hat, ist einfach keine Zeit mehr für irgendetwas anderes. Ich brauche Dich so sehr. Entweder schaffe ich es jetzt oder gar nicht. Meist kommst Du aber genau die richtige Zeit später, damit alles nett hergerichtet ist. Dir zuerst die Zimmernummer simsen. Dann Heizung aufdrehen (damit Du nicht frierst ohne Decke), Jalousien runter, Musik auf dem Pad an, Kerzen aufstellen und anzünden, eine Bettdecke entfernen (Du bist heiß genug), Sekt eingießen, Wasser oder O-Saft rausholen, Zimmerlampen aus bis auf eine. Warten. Hoffentlich ist nichts passiert. Manchmal noch kein Lebenszeichen von Dir. Warten. Vielleicht schon mal einen Schluck Sekt trinken. Oder zwei ... Ist das Lampenfieber? Nein, aber Aufregung. Kostbare Minuten verrinnen ungenutzt. Jetzt komm doch endlich und laß mich hier nicht so rumzappeln! Bestimmt gehst Du unten noch mal aufs Klo, weil Du weißt, hier oben kommst Du nicht mehr dazu. Ziehst Du Dich vielleicht sogar noch um? Ein Kleid und nichts drunter? Auch das ist schon passiert. Ich denke an dieses spezielle Treffen: Du kamst zur Tür rein und dann ging alles sehr schnell. Sehr schnell . Es war nicht mal abgesprochen, sondern eine Art Intuition. Bezaubernd. So kann das nur mit Dir sein. Ich muß mich mit irgendwas ablenken. Noch ein Schluck Sekt – gleich ist das erste Glas fast leer. Etwas SPIEGEL lesen. Aber konzentrieren kann ich mich nun überhaupt nicht mehr. Stattdessen stelle ich mir vor, wie ich Dich in hoffentlich wenigen Augenblicken umarme, Deine warmen Lippen und die weiche Zunge spüre, Dein Gesicht ganz nah vor meinem ist … („Ist er wach, erfasst ihn mitunter eine große Sehnsucht nach ihrem Körper. Er sieht ihren Mund, Hals und Schultern, unter ihrem Kleid das Fleisch, die Stellen, die er vor hundert Jahren berührt hat und noch berühren kann. Heute ist es besonders schlimm.“). Aufs Klo. Weiter warten. Irgendwann das erlösende leise Klopfen. Ich öffne die Tür. Du strahlst mich an. Ich erwarte es und schmelze trotzdem sofort dahin.
Was tun? Ich sollte nicht sofort über Dich herfallen, Dich nicht sofort ausziehen. Aber das ist genau, was ich möchte. Versuche der Beherrschung. Eigentlich ist das alles zu viel. Dieser sinnliche Overkill. Erstmal nur ein Kuß, Umarmen. Ich spüre Deine Kleidung, die Konturen darunter, die Haut, vergrabe mich in Deinen Haaren. Du riechst so gut. Alle Phantasie ist so plötzlich so real. So unglaublich real. So vertraut alle Eindrücke und so neu und betörend zugleich. Nur unter die Wäsche fassen und den Rücken entlang. BH mal öffen ¬- Freedom for your Busen! Alles schwer auszuhalten. Ein paar Sekunden muß ich Dir aber gewähren, um Deine Sachen abzustellen. Ich helfe Dir aus dem Mantel. Alles auf einmal ausziehen oder schrittweise? Viel zum Denken komme ich nicht, aber trotzdem gehen mir solch strategische Überlegungen durch den Kopf. Doch ich muß nicht planen und denken, denn alles ergibt sich von selbst. Küssen, mehr küssen, auch wohl etwas reden. Du lachst so süß. Aufs Bett fallen. Mehr küssen. Anfassen. Drücken. Abknabbern. Es ist so unglaublich, daß Du plötzlich da bist. Diese ganze zauberhafte Materie, mit der ich sofort interagieren kann. Du liegst auf mir. Es fühlt sich so gut an. Du bist es! Wie immer eben. Eigentlich nicht überraschend, aber trotzdem immer gleich wundervoll. Überwältigend. Auch nach vier Jahren. Es wird sicher niemals anders sein. Dann doch nicht weiter warten und zumindest mal die Hosen weg. Vereinigung. Seligkeit. Rumwälzen. Es wird wie immer eine ziemlich rauschhafte Zusammenkunft. Die Welt zieht sich zusammen auf einen einzigen Punkt, ein einziges allumfassendes Erlebnis, ein einziges Glück. „I could go anywhere with you, and I´d probably be happy.“
Die Stunden vergehen einfach so. Immer viel zu schnell. Zusammensein, Vereinigt sein, Reden, Lachen, Anfassen, Sekt trinken, Orangenplätzchen essen. Oder ein Käsebrötchen. Manchmal auch ernste Gespräche. Traurigkeit. Ein Strom von Musik. Ab und zu das Piepsen eingehender Nachrichten. Irgendwann der Weckton Deines Handys – nun ist das baldige Ende der Zusammenkunft nicht mehr zu verdrängen, es wird gleich vorbei sein. Vielleicht noch ein halbe Stunde. Oder nur noch zwanzig Minuten. Ich sehe schon die Abschiedsszene. Schön, wenn jetzt schon das Datum des nächsten Treffens angedacht wurde. Weitermachen, das Piepsen mehrere Male ignorieren, möglicherweise noch ein letztes Verschmelzen. Ich will Dich nicht loslassen, nicht aufstehen lassen. Aber Du mußt, selbst bei günstiger Verkehrslage wird es schon knapp jetzt. Duschen, Anziehen, Sachen zusammensuchen, Wachs kühlen auf dem Balkon, Einpacken. Strümpfe suchen. Ich bin zu erhitzt, um mehr als ein T-Shirt zu tragen. Vielleicht noch ein Foto für meine Sammlung, aber alle Zimmer sehen gleich aus. Wenn es blutig war, bestehst Du auf dem Abziehen der Bettwäsche. Ein letzter wehmütiger Blick, Zimmernummer zerreißen, Türe zu, kurz orientieren, durch die Flure Richtung Treppe. Du läufst vor mir die Stufen herunter, ich leicht beschwingt dahinter. Der rote Mantel, die Ledertasche, der Wuschelkopf. Wir sind immer in Eile, da wir erst in letzter Minute aufstehen. Ich will nicht, daß Du gehst, daß Du mich schon wieder verlässt. Ich stelle mir vor, daß wir gerade erst aufbrechen zu einem Ausflug oder einer kurzen Reise. Es ist gar nicht das Ende der heutigen gemeinsamen Zeit, sondern der Anfang. Und Ausziehen könnte ich Dich auch gleich wieder ... Sollte ich Dich nicht viel mehr anfassen? Wir haben doch nur dieses eine Leben und irgendwann wird es vorbei sein. Carpe diem.
Die Rückgabe der Zimmerkarte mit etwas peinlich berührtem Lächeln – wir haben die kleine „Vollzugsbox“ nach getaner Arbeit wieder verlassen und düsen ab … Aber ein Vollzug in diesem Sinne ist es gerade nicht. Das Personal irrt, sollte es in unseren Treffen lediglich eine Affäre zum Ausleben sexueller Begierden sehen. Das mag es auch sein (wer könnte Dich körperlich nicht begehren), aber es ist doch so viel mehr. Du bist eine Erfüllung für mich, die alles umfasst, was eine Beziehung umfassen kann – ein multidimensionales Erleben, ein komplexer Austausch. Das Stays ist eine Notlösung - eine sehr schöne und aufregende Notlösung, aber eine Notlösung in Ermangelung einer besseren Möglichkeit. Ich treffe Dich hier nicht zur Triebabfuhr, sondern weil ich Dich liebe und so oft wie möglich mit Dir zusammen sein möchte. Und das so intensiv wie möglich.
Jetzt eine grausame Aufgabe, ein schreckliches Ritual: der Abschied. Du verschwindest im blauen Wagen. Ich schaue Dich nochmal an. Ich hasse dieses ewige Ende so sehr. Rausfahren, ein kurzer Kuß durch das geöffnete Fenster, ein paar Worte – dann bist Du weg. Bloß keine Tränen jetzt. Zusammenreißen. Irgendetwas Positives denken. Ich schaue Dir ganz bewußt nicht lange nach, wie Du die Paderborner Straße entlang fährst Richtung A1 und Dich rasch entfernst, sondern drehe mich entschlossen um und gehe langsam zur Haltestelle. Schaue vor mich und bin in eigenartiger Stimmung. Manchmal etwas euphorisch, noch ganz im Bewußtseins unseres Beisammenseins, manchmal melancholisch. Wenn ich diese Straße entlang gehe in diese Richtung, ist es wieder vorbei. Ich sehe die Häuser und Zäune und Hecken und den grauen Himmel und sehe doch nichts. Eben noch lief ich in die andere Richtung und alles lag vor mir. Die Zeit dazwischen wirkt schon jetzt wie etwas Traumhaftes, etwas Unwirkliches, zumindest aber sehr Flüchtiges. Eben noch lagst Du in meinen Armen. Doch das Eben entfernt sich unerbittlich. Bin noch immer so aufgeheizt, daß ich Mantel und Pullover über dem Arm trage und auch später nicht mehr brauche. Bin etwas derangiert. Vom Sekt, der Körperlichkeit, den Emotionen, der Hektik zum Schluß, dem Abschied. Die kalte Luft ist erfrischend und angenehm auf der Haut. Ich denke wenig, mechanisch tue ich die Dinge, die anstehen. Laufen, Straße queren, Stehen. In der Bahn das erste der beiden Brötchen auspacken und endlich mal was Richtiges essen – aber in Deiner Gegenwart habe ich merkwürdigerweise kaum Hunger. Schaue aus dem Fenster – keine schöne Gegend hier: häßliche Zweckbauten, billige Nachkriegsarchitektur, Baulücken, trostlose Geschäfte. Aber die Außenwelt stört mich nicht – ich bin ganz mit meinem inneren Erleben beschäftigt. Dann schon Haltestelle Kampstraße: raus und zum Bahnhof. Einen großen Milchkaffee kaufen und auf Gleis 11. Setzen, trinken und an nichts denken. Versuchen, nichts zu denken. Meistens schaffe ich den durchgehenden Zug um 14.37.
Es ist nie wirklich voll. Wenn ich Glück habe, gibt es einen Platz in Fahrtrichtung an einem leeren Tisch. Dann erstmal dasitzen, die Füße hoch, entspannte Position, nichts tun und sich einfach nur durch den Raum transportieren lassen. Es kann wie eine Art Lähmung sein. Im Inneren der Zeit: alles leer und ruhig. Ich schaue geradeaus und sehe den Waggon beidseits am Rande des Blickfeldes wie eine Röhre durch die Gegend sausen, mich wieder forttragen von Dir. Ich könnte vieles tun, aber meistens tue ich wenig. Bin zu erschöpft und gedankenlastig nach diesen Stunden. Manchmal nehme ich die Landschaft wahr. Es gibt schöne Momente. Wenn die Sonne plötzlich rauskommt zum Beispiel und Wiesen und Wälder in ein besonderes Licht taucht. Ich stelle mir vor, wir säßen zusammen in diesem Zug und würden irgendwohin Richtung Süden reisen. Wir passieren die Gegend von Bochum. Wo alles begann. So weit weg – und Du wieder so nah. Manchmal.
Die Stimmung auf diesen Rückfahrten kann sehr unterschiedlich sein. Oft spüre ich eine angenehme Erschöpfung. Der intensive körperliche Kontakt ist noch nicht abgeklungen, Du bist noch etwas bei mir. Ich fühle dieses starke Zusammengehörigkeitsgefühl. Du bist die Frau, die ich liebe. Warum sind wir andauernd getrennt? Was soll das alles? Oft denke ich Gedanken, die ich schon so oft dachte. Ich möchte, daß Du bei mir bleibst. Manchmal bin ich nur traurig auf diesen Rückfahrten. Alles erscheint so sinnlos. Diese Sackgasse ist einfach nur schlimm.
Ich denke über mein komisches Leben nach und meine ständigen Reisen zu Dir. Im Zug sitzen und zu Dir fahren, von Dir wegfahren. Versuche mir klarzumachen, daß diese Reisen gerade zu meinem Leben gehören. Daß sie ein elementarer und wichtiger Bestandteil meines Lebens sind. Ob es mir nun passt oder nicht. Ein verrücktes Leben. Schön, aufregend, und traurig, frustrierend. Ich wünsche es mir eigentlich nicht so. Ich wünsche mir, daß wir richtig zusammen sind, nicht nur auf Stundenbasis. Ich möchte, daß diese Reisen zu Dir und von Dir weg einmal eine schöne Erinnerung von uns werden. Ein spannender Teil unserer Vorgeschichte. Dieser sehr langen Vorgeschichte mit so vielen Hindernissen, Mißverständnissen und ewigem Zaudern. Warum mache ich das alles? Ich weiß, warum ich es mache – es ist mir ganz klar. Ich zweifele eigentlich nicht an der Sinnhaftigkeit meines Tuns. Es fühlt sich richtig an, wenn ich in diesem Zug sitze. Zumindest würde es Sinn machen und sich richtig anfühlen, wenn Du auch wüßtest, warum Du es machst, und wenn es die ungefähr gleichen Gründe wären wie bei mir. Aber das weiß ich nicht. Weißt Du es wenigstens?
Was vom Tage übrig bleibt? Es ist gar nicht so viel. Erstmal ist es natürlich sehr viel. Es reicht für Stunden und Tage, manchmal sogar für länger. Aber es hält nicht ewig, die Gefühle und Eindrücke lösen sich langsam wieder auf, werden zumindest schwächer. Wie bei jedem Menschen, wenn kein physischer Kontakt mehr besteht. Es muß ständig erneuert werden. Sonst zerfließt alles zu Vergangenheit. Der direkte Kontakt kann nicht durch Erinnerung, durch Phantasie ersetzt werden. Nichts kann angemessen konserviert werden. Es bedarf der ständigen Auffrischung. Zusammensein heißt, sich auch ganz analog zu begegnen. Es ist so wichtig. Wenn Du weg bist, habe ich sofort diese schreckliche Sehnsucht („Ich verbrenne. Fern Deiner Glut, Du Herrliche!“). Auch nach so langer Zeit denke ich noch jede Stunde an Dich. Manche finden das sicher romantisch, aber es ist vor allem hart. Könntest Du Dir vorstellen, daß wir uns eine Zeit lang (fast) jedes Wochenende sehen? Nur am Wochenende? Das wäre sehr viel mehr als jetzt. Für mich wäre eine Wochenendbeziehung deshalb im Augenblick gar nichts Abschreckendes, sondern eine Verheißung. Nicht für immer natürlich, aber eine Zeit lang. Erstmal. Als Übergangsphase.
Ich bin wieder daheim. Jetzt heißt es, warten bis zum nächsten Mal. Wenn wieder alles von vorne beginnt: „Ich gehe aus dem Haus und ziehe die Türe vorsichtig hinter mir zu ...“ Vielleicht lärmen dann schon die Vögel und es ist heller. Der Beginn einer weiteren Wiederholung. Weil Du nicht mehr als das möchtest. Ich fasse es oft nicht, daß Du nicht mehr als das möchtest. Ich fasse so Vieles nicht wirklich. Deine ewige Abwesenheit, wo wir doch zusammenleben sollten. Diese ganze getrennte Vergangenheit. Auch diese Vergangenheit kann sich unwirklich anfühlen. Wie ein merkwürdiger, absurder Traum. Wir wissen noch nicht, wann das nächste Mal seien wird. Ob es überhaupt seien wird. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß es ein nächstes Mal geben wird. Aber diese Überzeugung leitet sich nur aus dem rückblickenden Wissen ab, daß es bisher immer ein nächstes Mal gegeben hat. Eigentlich eine unzulässige Extrapolation, eine täuschende Gewissheit von Verstetigung und Beständigkeit. Denn es kann ja immer vorbei sein, wie bei jeder fragilen Beziehung. Ist es eine fragile Beziehung? Gefühlt ja, aber rückblickend eigentlich nicht. Du gibst mir dieses Gefühl jedenfalls. Es scheint bei Dir keine verbindliche Abmachung gewollt. Du möchtest alles immer in der Schwebe halten. Außer der faktischen Tatsache, daß wir seit nunmehr vielen Jahren in dieser Form zusammmen sind, gibt es keine Verbindlichkeit mit Dir. Eine Verbindlichkeit aus Gewohnheit könnte man meinen. Ich weiß nicht, was Du von mir willst. Irgendwann wird es vielleicht ein letztes Mal geben, vielleicht schon bald. Wer weiß das. Denn Du willst ja nicht mehr. Und dann weiß ich es vermutlich nicht mal in dem Augenblick - daß es der letzte Rike-Tag war und alles vorbei ist.