08.01.   Spätzeit

Ich lese gerade ein paar Kurzgeschichten des Eduard von Keyserling aus einem Buch, das mich neulich völlig zufällig im Vorbeigehen ansprang und das ich eigentlich nur wegen des Umschlags erwarb, da mir der Autor selbst wenig sagte. Aber der Bildausschnitt des Covers hatte so etwas Schönes und Verhei-ßungsvolles, daß ich dadurch unweigerlich auf den Inhalt schließen mußte und mich dann auch etwas mit diesem Sonderlings beschäftigte, der unverheiratet blieb und sein Leben lang unter den Folgen einer Syphilis litt, die ihn relativ früh erblinden ließ. Er mußte dann all seine Werke den mit im Haushalt leben-den beiden Schwestern diktieren (!). Die Kommentare aus dem Nachwort klingen zumindest gut:

„Keyserling versteht einen Sommernachmittag so zu beschreiben, dass man während seines Glühens und Verdämmerns das Gefühl des ganzen Lebens hat“ (Hermann Hesse). „Die Innovation von Keyserlings Erzählungen liegt darin, daß bei ihm sämtliche Spannung und sämtliche Energie in die Sprache verlagert ist. In der Sprache laufen die Gefühle heiß, in den Schilderungen der Natur zittern die Sehnsüchte. Wie erklärt sich diese ungeheuer verdichtete Sinnlichkeit, die er in die Beschreibungen zu legen vermag, wieso wirken die Wiesen bei ihm sonniger als irgendwo sonst, die Schatten dunkler, die Himmel höher? Weil er nichts mehr sah. Und also alles vor seinem inneren Auge heraufbeschwören mußte.

Die sinnliche Anschaulichkeit seiner Sprache erlebte nach der Erblindung noch einmal eine Intensivierung in der Wiedergabe der Farbigkeit, der Gerüche, der Töne. Es ist dieser aus großen Tiefen kommende Blick mit geschlossenen Augen, der seine Erzählungen so aufregend macht. Er muß alle Sinnlichkeit in die Schil-derung eines Sommenachmittags legen, in die Sensationen des Lichts, weil er all dies nur erinnern kann, wenn er es mit höchster Konzentration und Präzision aus den Tiefen seines Gedächtnisses hervorzieht. Anders gesagt: erst seine Blindheit hat ihn sehend gemacht. Aus dem Schmerz über den Verlust der Gegenwartsempfindung hat er die Erinnerung zu einer gleichwertigen Wirklichkeitsebene gemacht.“

"Liebevoll malt er die Intérieurs der Schlösser und Landhäuser der untergegangenen Welt des baltischen Adels ebenso wie die künstlichen Landschaften der Felder, Gärten und Parks mit ihren Farben, Düften und dem wechselnden Licht. Wenn es längst keinen Park mehr geben wird, wird man sich mit Hilfe von Key-serlings Schilderungen immer noch vorstellen können, welche Paradies-Verheißungen die alten europäi-schen Schlossgärten einmal enthielten.“

"Es ist Spätzeit auf all den Landsitzen, die bei Keyserling in sonnendurchglühter Pracht vor sich hindäm-mern. Spätzeiten haben etwas ungemein Riezvolles. Sie schärfen die Sinne und intensivieren Empfin-dungs- und Genußfähigkeit durch die bloße Ahnung des bevorstehenden Verlusts. Die süßesten Kirschen sind eben die überreifen, die fettesten Wiesen die am Vorabend der Mahd, und das betörendste Licht bringt der Nachsommer."

„Keyserling wußte um die archaischen und immer aktuellen Triebkräfte, er weiß um die Liebe, die Kränkung, den Ehrgeiz, den Neid. Aber er lässt dies alles in seinen Erzählungen nur kurz aufflackern, bevor er die Erzählung wieder in einen anderen Dialog fließen lässt, oder in eine Naturschilderung, bevor der Blick in die Untiefen der menschlichen Seele für den Leser zu schmerzlich wird. Es gibt einen kleinen Aufsatz von ihm mit dem Titel „Das Leben ist ein Problem“. Er weiß, dass seine Erzählungen nur die sichbaren Schaumkronen eines Lebens sind, das natürlich in Wirklichkeit voller Wellen steckt, voller Untiefen, voller Sand und voller versunkener Schätze. Das Leben ist ein Problem – aber es geht trotzdem immer weiter.“

„Er wußte sehr genau Bescheid über die Nuance, die die Sehnsucht nach dem Glück von der Sehnsucht nach dem Unglück scheidet. Und er hat beschrieben, dass es manchmal die Erfüllung der Sehnsucht ist, die die Menschen am unglücklichsten werden lässt.“