21.01. Laufen
"Ich kann nicht mehr. Das ist natürlich Quatsch, ich bin gerade erst losgelaufen, aber schon an der Ampel glaube ich, ich kann nicht mehr, nach nicht mal hundert Metern. Meine Beine sind wie Sandsäcke, bin ich wirklich jemals länger gelaufen? Lange her. Vielleicht fällt mir ein Grund ein, warum ich doch nicht laufen kann, warum ich jetzt sofort umkehren muss, obwohl heute der beste Tag ist, um wieder mit dem Laufen anzufangen, Laufen ist mit Sicherheit gut, außer dass ich nicht mehr kann, vielleicht ist heute auch gar nicht der beste, sondern der schlechteste Tag. Regnet es? Es war schon schwer genug, die Laufsachen überhaupt anzuziehen, unfassbar, wie viel Überwindung einen das kosten kann, auch wenn man fest beschlossen hat, endlich wieder zu laufen, und zwar jetzt, an diesem Tag, wie viel Kraft es kosten kann, die Sportsachen rauszusuchen, zu entscheiden, was bei der Temperatur das Richtige ist, welche Hose, die dicke, die dünne, ist es warm genug, ob ein langärmliges Shirt und dem kurzen reicht oder ob noch die Jacke drübermuss, was für eine Anstrengung, und dann, wenn man fertig angezogen ist, wirklich loszu-laufen, wieso war das so schwer, ich schaffe es doch auch, zur Arbeit zu gehen, das ist längst nicht mehr so hart wie am Anfang, sondern hält mich aufrecht, und immerhin, ich habe es geschafft, loszulaufen, die Ampel wird grün, ich kehre nicht um, ich laufe weiter, es regnet gar nicht, aber mein Fuß knackt bei jedem Schritt, und nein, auch das ist kein Grund umzukehren, ich reiße mich jetzt zusammen und laufe weiter. Rike hat recht, sie hat gesagt, ich soll wieder laufen, Rike hat immer recht, natürlich kann ich noch, das ist ja albern. Früher hat es auch meist eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten gedauert, bis ich nicht mehr darüber nachgedacht habe, ob ich noch kann oder nicht oder wie weit und wie lange ich heute kann, bis meine Beine nicht mehr aus Beton waren und ich es nicht mehr bereut habe, ausgerechnet heute zu laufen, überhaupt zu laufen, sondern das Gefühl hatte, ich kann noch eine ganze Weile weiterlaufen und bin zufrieden dabei. Ob das immer noch so ist, keine Ahnung, wie lange bin ich jetzt nicht mehr gelaufen? Sechs oder acht Jahre vielleicht, ewig jedenfalls, ich weiß nicht mehr, warum ich damals mit dem Laufen aufgehört habe, ich war doch ganz fit und habe es auch ganz gerne gemacht, aber das ist lange her, und jetzt tut mir nur noch der Schultergürtel weh. Irgendwann werde ich wieder dahin kommen, dass es von allein läuft, dass sich der Rhythmus so oft wiederholt hat, bis mein Körper zur Maschine wird, na klar, Maschine, mein Körper ist alles Mögliche, aber keine Maschine, er läuft nicht rund, und ob ich es über-haupt so lange schaffe, bis es besser würde, muss ich auch erst mal sehen. Eine halbe Stunde müsste ich doch hinbekommen für den Anfang, wenigstens eine halbe Stunde, früher bin ich eine ganze Stunde gelaufen, fast zehn Kilometer, aber da war ich noch keine vierzig, das werde ich jetzt nicht mehr schaffen, jedenfalls nicht auf Anhieb, aber eine halbe Stunde muss doch zu machen sein, so unfit kann ich nicht sein, oder wenigstens zwanzig Minuten, das ist ja praktisch gar nichts. Wenn ich nur den Beton von den Füßen bekommen würde, und wenn ich nur besser Luft bekäme, vielleicht habe ich ja eine Allergie entwic-kelt, meine Lunge pfeift, ich hatte zwar nie Heuschnupfen, aber vielleicht ist ja etwas in der Luft heute, vielleicht muss ich doch umkehren, ich kann nicht mehr. Gut, ein bisschen geht noch, nur ein Stück, wenigstens bis zur Laterne, dann den Grünstreifen parallel zur Straße entlang bis zum Park und einmal durch den Park wieder zurück nach Hause. Notfalls zwischendurch ein Stück gehen, zum Beispiel jetzt, Blödsinn, ich bin gerade erst losgelaufen, ich muss langsamer laufen, aber laufen. Laufen ist super, so schön stumpf, man muss gar nicht denken, ich kann sowieso nur über das Laufen nachdenken und über meinen Körper und gar nicht über den ganzen anderen Mist, weil das alles viel zu anstrengend ist, ich laufe mir die Grübelei weg, andere Leute laufen angeblich, weil sie dabei gut nachdenken können, ich kann an gar nichts anderes denken als an meinen Körper, ob er funktioniert, wie das Laufen sich anfühlt, ob ich noch kann, und wenn ja, wie weit, und ob mir gerade etwas wehtut, oder was am meisten wehtut, aber beim Laufen tut endlich der Körper weh, das ist jedenfalls besser, als vor dem Rechner zu sitzen und stundenlang bunte Kügelchen abzuschießen oder Karten zu sortieren und dabei immer an – Dem Körper wehtun, das tut gut, ich kann nicht mehr, ich renne weiter."