16.07. Solenoid
Laut den Rezensenten ging es Cărtărescu in seinem Opus Magnum primär darum, ein Buch zu schreiben, „das alles ist, worauf es ankommt; eines, das dem Leser wie ein Messer ins Herz fährt – das Buch, durch das alles anders wird.“ Also ein völlig größenwahnsinniges Unterfangen.
„Mit diesem Manuskript will Cărtărescu sich selbst sein Leben und seinen Geist erklären, die Geschichte der Anomalien seines Lebens. Es ist der Mittelpunkt seines eigenen Universums und will die exzentrische Welt unter seiner Schädeldecke vollständig erfassen, die sinnliche Wahrnehmung der Außenwelt ebenso wie die geheime, die intime und phantasmagorische, die Traumwelt seines Geistes".
Ich kann das natürlich nicht so gut beschreiben und habe es ja auch noch gar nicht gelesen, deshalb nur diese Auszüge von der immer brillianten Sigrid Löffler: „Wie schon sein gewaltiger Vorgänger, die Roman-Trilogie Orbitor, ist auch Solenoid kein realistischer Roman, auch wenn ein topografisch genau beschriebenes Bukarest der äußere Schauplatz ist und auch wenn viele Wirklichkeitspartikel aus den Hun-ger- und Kältejahren der finstersten Ceausescu-Diktatur und so manche autobiografische Details aus Carta-rescus eigener Kindheit und Jugend eingearbeitet sind. Es ist vielmehr ein komplexes, exzessives, hypertro-phes, alle Grenzen sprengendes literarisches Werk, das die Realität auf phantastische, surreale Weise übersteigt und den Ehrgeiz hat, in eine imaginäre vierte Dimension hinter unserer dreidimensionalen Welt vorzustoßen. Es sind mehr als 900 sprachmächtige Seiten überhitzter und manierierter Prosa voll exaltierter Metaphern, bizarrer Allegorien und apokalyptischer Bilder. Es entsteht ein flirrendes und glitzerndes Kalei-doskop von Bewusstseinssplittern, Phantasieblitzen, Kindheitserinnerungen, Halluzinationen, Träumen und Visionen, entsprungen im Kopf des Erzählers, seinem „Einverleibungsapparat".
Entworfen wird ein panoramatisches Bild vom inneren Kosmos des Autors und seiner Stellvertreterfigur, des Ich-Erzählers – ein Bild seiner abseitigen und verwegenen Lektüren, seiner extremen Gemütszustände, seiner Obsessionen und Exaltationen, seiner Alpträume und Zwangsvorstellungen, das Ganze vorgeführt in einer Hochfrequenzsprache. Die Wirkung auf den Leser ist horrend – magnetisch, suggestiv, oft bestürzend und verstörend, mitunter auch grausig und eklig, doch in den besten Passagen geradezu psychedelisch.“
„Zwei Schlüsselsätze finden sich an unscheinbarer Stelle und weit voneinander getrennt: "Für ein Kind ist nichts seltsam, denn es lebt im Seltsamen (...)" und: "Im Traum ist nichts magisch, magisch ist allein der Traum selbst." Solche Magie liefert die Voraussetzung, dass alles Vorhandene sich aus seinen Gelenken löst und zu verflüssigen beginnt. Das scheinbar Feste verwandelt sich in dahinfließendes Gefühl, einmalig, unvergleichlich, wie eben für das Kind und im Traum. Man lese zum Beispiel das Folgende: "Die menschliche Stimme ist Gedanke, der durch das Fleisch zieht. Sie ist ein abstrakter Strom, wie ein geschmolzener Kristall, der zwischen Häutchen und feuchtem Knorpelgewebe hindurchzieht, von den Schmiermitteln des artikulatorischen Kanals, Schleim und Speichel eingedunkelt, von dem wie ein Muschelbein aussehenden Zungenmuskel geknetet wird und dann zwischen den Zähnen und Lippen austritt. Die Stimme ist sexuell, sie kommt aus den Eierstöcken und Testikeln, sie ist dominierend oder unterwürfig, sie ist ganz und gar vom klebrigen Körper verschmiert, von der Materie dieser Welt, die Milliarden unterschiedlicher Festig-keiten kennt."
Ich bin allerdings erst auf Seite 60, da ist alles noch ziemlich harmlos - auch der sexuelle Akt mit seiner Kollegin Irina im Zustande der Levitation (des Schwebens) über dem eingeschalteten Solenoid hat noch nicht stattgefunden ;-)
18.07. Re: Solenoid
„So fing alles an - nicht zwischen uns, denn von einem „zwischen uns“ kann überhaupt keine Rede sein, sondern es fing schlicht und einfach an. Zufällig öffneten sich die Dinge durch dieses erste Gespräch mit ihr, aber ich denke, mir wäre es gleich gewesen, worüber wir sprachen, auch wenn sie damals in der Straßen-bahn gesagt hätte: „Schau, wir haben die ersten warmen Märztage.“ Als ich an der Haltestelle hinter ihr ausstieg, spürte ich plötzlich, dass es zwischen uns keine Grenze mehr gab, und ich hätte dort sofort nach ihre Hand gefasst, wenn mir nicht bewußt gewesen wäre, dass sich in der Straßenbahn noch weitere Kollegen aus unserer Schule befanden. Plötzlich öffnete sich an der Stelle, wo vorher nichts war, eine Tür. Plötzlich stand an einem Haus eine Tür weit offen, und das Haus erwartete mich mit allen zur Nacht hell erleuchteten Fenstern. Als sie zu mir sagte: „Schau, hier wohne ich“, dabei aber keinesfalls ihre Schritte verlangsamte oder gar innehielt und sich mir zuwandte, um sich zu verabschieden, wurde die Gewissheit, dass wir bei mir zu Hause und dort auch in meinem Bett landen würden, schlichtweg zur Wirklichkeit, so als befänden wir uns schon im Bett und dies wäre nichts Besonderes gewesen.
Ich weiß, dass wir während des gesamten zehnminütigen Weges, den wir zusammen von der Straßenbahn-haltestelle bis vor ihren Wohnblock gegangen waren, währenddessen in einer Liebesgeschichte alle Ent-scheidungen getroffen werden, keine einzige Entscheidung trafen, wie man ohnehin niemals im Leben etwas entscheidet. Ja, mehr noch: wie man auch nicht beschließt, der Mündung entgegenzutreiben, wenn man in einen durch Regenfälle angeschwollenen Fluß fällt und von den Wassermassen mitgeschwemmt wird; und es auch keine Entscheidung des Käfers war, auf alle Ewigkeit eingeschlossen in Bernstein zu ver-weilen. Wir sind in unsere Existenz eingeschrieben, sind in die große Tapisserie eingewebt; niemand erwartet von uns, dass wir Entscheidungen treffen, denn alles ist vorbestimmt, wie die Verstrebungen an einem Stuhl auch nicht beschließen, den Stuhl zu bilden, weil sie genau dies ohnehin tun. Dass die Dinge ganz genauso stehen, merkt man nicht jeden Tag, sondern nur in solchen Augenblicken wie in meiner Geschichte mit ihr: wenn man nicht dort sein müßte und trotzdem dort ist; wenn alles anders sein müßte und trotzdem so ist, wie es ist, und man das beruhigende Gefühl hat, dass es so ist, ja, ganz genau so sein müsse. [...]
Noch bevor ich Zeit hatte, mich zu fragen, woher sie wußte, dass ich ausgerechnet dort wohnte, in jenem schiffsförmigen Haus, fasste mich die blasse, nunmehr lächelnde Frau an der Hand, und wir durchmaßen solcherart Hand in Hand die etwa fünfzig Meter bis zum Gebäude. Im nächstfolgenden Augenblick waren wir auch schon im Schlafzimmer angekommen, und da war zwischen uns nichts mehr zu sagen; und zwar nicht, weil wir Kollegen waren und uns leidlich kannten, sondern geradezu so, als wäre die Welt eine arbi-träre Illusion gewesen, und Wörter wie Leid, Geist, Psychologie, ja sogar das Wort Biologie hätten sich wie Zucker in Wasser aufgelöst. Und ihre Vulva, und ihre Brüste, und die Muskeln ihres erschöpften Körpers, und die betörende Kraft ihres sexuellen Verstandes waren mir vertraut, als hätten wir den düsteren Ritus dieses Spiels mit unseren Körpern bis dahin schon hunderte Male gespielt gehabt. Ich will jetzt nicht über ihre Sexualität schreiben, aber ich werde es später in diesem Manuskript tun, das dieser Beschreibung bedarf, denn ich hatte noch niemals eine dunklere und phantastischere, eine fleischlichere und süß-quälendere Erfahrung gemacht, und glaube, es kann auf dieser Welt, in der wir in empfindsames Fleisch eingehüllt leben, keine stärkere Droge geben.
In unserer ersten Nacht im Bett, während es ringsrum immer dunkler wurde, verfinsterte sich auch, was sie mir ins Ohr flüsterte, bis wir beide nur noch schwarz vor Augen sahen. Ich akzeptierte ihre Phantasmen vom ersten Augenblick an mit der Natürlichkeit, mit der ich ihre Lippen und ihre Zunge, ihr Stöhnen und ihre Raserei akzeptiert hatte, als wären sie immer auch schon meine gewesen. Nicht einmal, als wir völlig ent-spannt nebeneinander auf dem Rücken lagen und im Halbschatten passiv die Lichtstreifen betrachteten, die von den vorbeifahrenden Autos an die Zimmerdecke geworfen wurden, fragte ich mich, wie ich mich immer gefragt hatte, wenn ich zufällig mal mit einer Frau Sex gehabt hatte: was suche ich hier? Wer ist diese Person an meiner Seite?
Als ich aus dem Bad zurückkehrte, fand ich sie mitten im Zimmer. Und nicht etwa, weil sie aus dem Bett aufgestanden und im Zimmer herumgelaufen wäre, sondern weil sie, nackt und blau angelaufen, einen Meter über dem Bett schwebte, die Hände unter dem Kopf und das blonde Haar ihr durch die verschränkten Finger auf den Boden zu fließend. Gläsern, halbtransparent, mit gemächlich und weich im Dunkel unter der Haut sich bewegenden inneren Organen schwebte sie in der kaffeebraunen Luft, und alles hatte die Anmu-tung einer alten, nicht lokalisierbaren Erinnerung. Sie streckte ihren Finger zu einem Ebonitknopf an der Wand über dem Bett, den ich nun zum ersten Mal bemerkte, drückte leicht darauf und sank langsam und wie flatternd oder auf Wellen schwebend auf das zerknüllte Leintuch herab. „Das ist der Solenoid“, ging es mir plötzlich durch den Sinn. Wieso hatte ich diesen Knopf bisher noch nicht gesehen? Er war scharlachrot, wie die Brustwarze einer Frau, und von einer etwas dunkleren Aureole umgeben. Von dieser Nacht an schlief ich stets zwischen Bett und Zimmerdecke in der Luft schwebend. [...]
Sie, ohne die ich das kleine Geheimnis in meinem Schlafzimmer niemals entdeckt hätte, kommt einmal pro Woche oder alle zwei Wochen hier vorbei, unvorhersehbar zwar, aber durchaus konstant. Unsere Sexualität hat durch diese Levitation unglaublich viel gewonnen. Wir lieben uns nun in der Luft, ohne diese linkischen Bewegungen versehrter Erwachsener, ohne die auf den Betten klebenden Körper. Wir ziehen die Vorhänge zu, legen uns nackt auf das Bett, drücken auf den Knopf und erheben uns federleicht in die vollkommene und dermaßen tadellose Dunkelheit, dass es absolut unerheblich ist, ob wir die Lider schließen oder sie weit offen stehen. Wir umfassen uns, ohne zu wissen, wer obenauf und wer darunter ist, denn der Raum kennt plötzlich keine Richtung mehr. Wir sind nur noch Körper mit trockenen und mit feuchten Zonen, mit warmen und rauhen Zonen, mit Behaarungen und Glätten, mit sauren und Laugengeschmäcken, mit Weichheiten und harten Schwellungen. Wir fressen uns gegenseitig auf, umklammern uns, dringen in die Körperöff-nungen des Anderen, glitschen heraus, verlieren uns in der Finsternis und finden uns wieder, jedesmal feuchter und glühender, wenn unsere ins Nichts und Niemals verirrten Finger andere Finger berühren oder eine Fußsohle, eine Schulter oder das Haar, den Mund oder die Wimpern des Anderen, um dort dann zu verweilen in Berührung und Nähe.
Es ist, als gäbe es auch bei uns so ein metallisches Klicken wie bei den geschwungenen Magneten, aber unser Klicken, das in einer psychischen Aura und unvorstellbaren Lichtexplosion kulminiert, ist nun keines-falls das Ende unserer Begegnung über dem unbenutzt gebliebenen Bett. Nachdem unser schier epi-leptischer Schrei verklungen ist und unsere Gliedmaßen sich beruhigt haben, schalten wir das Licht ein, und das beinahe gewalttätig im Spiegel aufscheinende Bild unserer Körper, die, umgeben von Sperma- und Schweißtropfen, dem offenen, klatschnassen Haar von ihr, unseren Beinen und Geschlechtern, in der Luft schweben, füllt plötzlich die fremde unerträgliche Realität gierig auf. Wir lassen uns auf die Leintücher herabsinken, werfen uns flach und schwer, als trügen wir Bleipanzer, aufs Bett, das unter uns knirscht, und versinken, nachdem wir das Licht wieder gelöscht haben (diesen Augenblick habe ich schon vor Stunden erwartet, schon als wir begonnen haben, uns auszuziehen), in unserem wahrhaftig geheimen Leben, ange-sichts dessen die physische Liebe lediglich ein schwaches und unbedeutendes Vorspiel war.“
18.07. Re: Solenoid
Diese Körperlichkeit hängt aber auch mit meiner gegenwärtigen Lektüre zusammen, wird durch sie zumin-dest enorm verstärkt. Jeden Tag versuche ich, ein paar Seiten von Solenoid zu lesen. Ein wirklich mon-ströses Werk mit atemberaubend fantastischen Offenbarungen. Dort geht es teilweise auch sehr körper-lich zu. Die Dir bereits geschickten sexuellen Erlebnisse sind dabei nur eine Randnotiz. Schon der Begriff Parasitologie ist dem Autor Stichwort genug, um sich in abenteuerlichen Überlegungen und Be-schreibungen der Insektenwelt zu verlieren, die in all ihrer Widerwärtigkeit und Absurdität und wahn-haften Über-zeichnung bei mir aber interessanterweise auch ein gewisses lustvolles Verlangen erzeugen, was einerseits an der sehr plastisch-körperlichen Darlegung liegt, andererseits aber sicher maßgeblich durch unsere physische Abstinenz verstärkt und in diese Richtung gelenkt wird. Das ganze Übersteigerte und die detailliert sinnlichen Eindrücke des Buches vermischen sich mit meinen entsprechenden Empfin-dungen Dich betreffend in einer irgendwie synergistischen, stimulierend-quälenden Art und Weise. Und ich stelle fest: je länger ich lese und mich den exzessiven Eindrücken und inneren Bildern des Autors aus-setze, desto mehr beginne ich, ebenso zu denken und zu sprechen ... Es ist eine Folter, aber abschalten kann ich diese Phantasien leider oder erfreulicherweise auch nicht. Aus physischer Frustration spiele ich dann eben auch noch gerne mit den wenigen, mir hier verfügbaren Fotos von Dir herum ... Ich bräuchte allerdings dringend mehr Auswahl und Variation, um mich auf diesem Feld besser ausleben und subli-mieren zu können (!)
21.07. Re: Solenoid
Inzwischen habe ich etwa zweihundert Seiten geschafft und bin recht begeistert. Die Kritiker haben recht: eine absolut lohnende Lektüre, zumindest wenn man Sinn für etwas Versponnenes hat ;-). Um Deine Mut-maßung zu entkräften, ich würde nur sexualisiert denken, hier ein paar Worte zu diesem Thema, das mich gerade neben Dir und den letztlich auch mit Dir zusammenhängenden und gut erklärbaren, entzugs-bedingten Phantasien viel beschäftigt.
In diesem Buch geht es größtenteils um das innere Erleben (abgesehen vielleicht von den paar Sexepisoden ...) bzw. die minutiöse Beschreibung der subjektiven Wahrnehmung eines Individuums. Der Ich-Erzähler ist ein frustrierter, unscheinbarer, einsamer, verkannter potentieller Schriftsteller und Poet, der notge-drungen und unter unsäglichen Bedingungen als Rumänischlehrer an einer Vorortschule Bukarests arbei-tet und dessen reale Welt nicht viel zu bieten hat. Sein eigentliches Dasein, die Abenteuer seines Lebens spielen sich in seinem Kopf ab: es sind seine Erinnerungen, Träume und Phantasien und die sie beglei-tenden Gedanken und Emotionen, die er beschreibt und beschreibend zu entschlüsseln und zu verstehen trachtet, um sich selbst zu verstehen. „Der Gegenstand meines Denkens ist mein Denken, und meine Welt ist mein eigener Kopf.“
Dieses Erleben der Welt und von sich selbst ist allerdings wesentlich intensiver als bei den meisten von uns: komplexer, exzessiver, bizarrer, bedrohlicher, abgründiger, übersteigerter. Manchmal denkt man, es seien die Wahrnehmungen eines paranoid Schizophrenen oder er stehe permanent unter Drogeneinfluß.
Der Protagonist nimmt seine Umwelt selten einfach so, unbeteiligt, nüchtern neutral oder gleichgültig wahr. Jeder Anblick, jede Begegnung, jeder Raum, jede Szene lösen sofort wildeste Phantasien und Assoziationen aus, die sehr plastisch ausgearbeitet werden. Allein, wie er zum Beispiel die Erkundung eines alten, verlassenen Fabrikgebäudes mit seinem Kollegen beschreibt, in dem seine Schüler heimlich mysteriöse Dinge zu tun scheinen, ist unglaublich. Oder die bereits erwähnte Insektenwelt, eine große Leidenschaft des Autors ... So ähnlich wie abstrakte oder surrealistische Malerei, nur als Worte und nicht gemalt. Traum und Wirklichkeit vermischen sich dabei oft, man kann sich nie ganz sicher sein, ob er noch die Realität beschreibt oder sich bereits in seiner Phantasiewelt bewegt oder Beides zugleich.
Es geht dabei also auch um die Ergründung des eigenen Hirns, seiner Funktionsweise und seiner Absur-ditäten und stellt somit indirekt Bezüge her zu Freud und Anderen, die dieses innere Erleben und die Deu-tung seiner Inhalte beschäftigt hat. Das ist in seiner Sprachgewalt, Detailliertheit und Wortakrobatik schon faszinierend und veranschaulicht letztlich in drastischer Form etwas, das uns allen vertraut und selbst-verständlich ist: in unserem Erleben gibt es keine objektive Wirklichkeit, keine objektive Wahrnehmung; die gegenständliche Welt ist meistens nur der Hintergrund und Auslöser, die Vorlage oder Projektions-fläche für unser eigentliches Erleben. Jede Wahrnehmung der Welt wird moduliert durch unser emotio-nales Gedächtnis, durch Assoziationen und vergangene Erfahrungen - und muß sich deshalb notwendi-gerweise auch immer von der Wahrnehmung und dem Erleben jedes anderen Individuums unterscheiden, das immer eine andere Erlebnisbiographie hat. Zumindest jenseits des uns allen gemeinsamen Rahmens von Erleben und Wahrnehmung, der biologisch festgelegt ist und der es uns ermöglicht, gemeinsam über die Welt zu sprechen und uns in ihr zu orientieren.
Neben dieser originellen, sehr surrealen, expressiven Beschreibung des Erlebens, die für sich schon ein Erlebnis ist, finde ich den Text eben auch deshalb interessant, weil er das Thema „Mein und Dein Erleben“ (unbeabsichtigt) aufgreift. Es geht primär um ein Erleben, das einen im Innersten ausmacht und das man schlecht oder gar nicht mit anderen Menschen teilen kann, weil man dieses innerste Erleben eines Ande-ren nicht selbst nachempfinden kann mangels einer adäquaten Möglichkeit der Vermittlung desselben. Vielleicht wird das ja in der Zukunft gelingen, wenn man Hirne und ihre neurale Aktivität direkt miteinander verbinden kann und somit ein unmittelbarer, nicht verbal oder optisch gebundener Informationsaustausch möglich ist.
Man taucht in diesem Buch ein in eine magische Welt, einen magischen Realismus. Selbst banalste All-tagsdinge und eigentlich triviale Begebenheiten erhalten eine spezielle Aura oder ästhetische Über-höhung. Oder werden Kristallisationspunkte einer märchenhaften Verfremdung, die alles und jedes zu etwas ganz Besonderen verändert. Es wird damit sehr anschaulich demonstriert, wozu unser Hirn fähig ist, wie es sich seine ganz eigene Wirklichkeit schafft. Man erfährt aber auch Einiges über eine Kindheit und Jugend in den sechziger und siebziger Jahren in Rumänien - vieles war (erwartungsgemäß) nicht sehr schön, zumindest in dieser Arbeiterfamilie. Insbesondere die Schrecken medizinischer Behandlungen wie ständige i.m.-Injek-tionen zur langwierigen Antibiose, aber auch die Allgegenwart der Polio etc. werden eindringlich geschil-dert.
So viel zum ersten Viertel ...