29.10. Re: Wahlverwandtschaften
Kräftespiel von Anziehung und Abstoßung. Eigenschaft von Elementen, sich spontan aus einer Verbindung zu lösen und eine neue einzugehen. Das Sich-verbunden-, Sich-angezogen-Fühlen aufgrund (chemischer) Übereinstimmung, ähnlicher Wesensart. Die Eigenschaft bestimmter Elemente, bei Annäherung anderer Stoffe plötzlich ihre bestehenden Verbindungen zu lösen und sich gleichsam wahlverwandtschaftlich neu zu vereinigen. Diejenigen Naturen, die sich beim Zusammentreffen einander schnell ergreifen und wechselseitig bestimmen, nennen wir verwandt. Die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken, so dass es sogar ein bezeichnender Ehrentitel der Chemiker war, wenn man sie Scheidekünstler nannte. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen: man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu und hält das Wort Wahlverwandtschaft für vollkommen gerechtfertigt.
03.11. Re: Wahlverwandtschaften
So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre." (Goethe, Die Wahlverwandtschaften)
04.11. Re: Wahlverwandtschaften
> Du liest also die Wahlverwandtschaften. <
Ich vermute, das war nicht schwer herauszufinden ;-). Ich dachte mir, daß ich mich dieser Aufgabe aufgrund des Themas jetzt einfach mal stellen muß. Nicht viel erwartend, bin ich davon ausgegangen, daß ich mich durch das Werk eher quälen müßte, anstatt es genießen zu können, aber das Gegenteil ist der Fall! Ich bin wirklich angenehm überrascht. Natürlich, es gibt ein paar Längen am Anfang und bei gewissen Nebenschauplätzen und ausführlicheren Beschreibungen der Landschaft und gestalterischen Aktivitäten den Park betreffend, aber der Rest ist interessant und je länger es geht, umso aufregender wird es. Wenn ich Zeit hätte, würde ich es direkt runterlesen. Jetzt bin ich ungefähr auf Seite Hundert und das Chaos ist schon perfekt zwischen den Vieren … Die Grundkonstellation ist etwas verschieden von der unsrigen (aus A+B, C, und D werden fragile A+C und B+D sozusagen), aber im Prinzip geht es um ähnliche Dinge. Ja, und es wimmelt von klugen Einsichten und Bemerkungen die Liebe betreffend und insbesondere die Institution der Ehe ... Goethe ist natürlich ein Virtuose in der Komposition und im sezierenden Beschreiben der psychologischen und emotionalen Veränderungen und Turbulenzen; nichts in dieser Geschichte ist dem Zufall überlassen, alle Begebenheiten haben eine bestimmte Bedeutung für das große Ganze, und das heißt vor allem, für die Beziehung der vier Freunde bzw. Ehepartner zueinander und im Hinblick auf die unheilvolle Entwicklung ihrer Situation. Die Sprache ist erwartbar schön antiquiert und edel, aber der Kern des Romans absolut aktuell. Irgendwie ist es ja beruhigend, sich auf diese Weise nochmal vergewissern zu können, daß bestimmte Grundsituationen und Probleme im amourösen Miteinander und Zusammenleben der Menschen zeitlos gültig sind und sich in dieser oder ähnlicher Art und Weise immer wieder in jeder Epoche und gesellschaftlichen Schicht wiederholen. Mit den gleichen Fragen, Reaktionen, Konflikten ... Und in jeder der vier Protagonisten wird eine andere Lösung oder Konsequenz der Problematik durchgespielt.
Es gibt aber auch ein Paar, daß uns etwas ähnlicher zu sein scheint: über den Grafen und die Baronesse, beide mit dem Ehepaar befreundet, heißt es: „Sie hatten frueher, beide schon anderwaerts verheiratet, sich leidenschaftlich liebgewonnen. Eine doppelte Ehe war nicht ohne Aufsehn gestoert; man dachte an Scheidung. Bei der Baronesse war sie moeglich geworden, bei dem Grafen nicht. Sie mussten sich zum Scheine trennen, allein ihr Verhaeltnis blieb.“. Allerdings schien es ihnen bezüglich gemeinsam verbrachter Zeit etwas besser ergangen zu sein als uns: „Wenn sie Winters in der Residenz nicht zusammen sein konnten, so entschaedigten sie sich Sommers auf Lustreisen und in Baedern.“ Außerdem: „Hoechst angenehm war auch den Freunden ihre Gegenwart. Den Grafen sowie die Baronesse konnte man unter jene hohen, schoenen Gestalten zaehlen, die man in einem mittlern Alter fast lieber als in der Jugend sieht; denn wenn ihnen auch etwas von der ersten Bluete abgehn moechte, so erregen sie doch nun mit der Neigung ein entschiedenes Zutrauen. Ihre freie Weise, die Zustaende des Lebens zu nehmen und zu behandeln, ihre Heiterkeit und scheinbare Unbefangenheit teilte sich sogleich mit, und ein hoher Anstand begrenzte das Ganze, ohne dass man irgendeinen Zwang bemerkt haette. Diese Wirkung liess sich augenblicks in der Gesellschaft empfinden.“
Hier exemplarisch noch weitere Abschnitte des zehnten Kapitels: …
11.11. Re: Wahlverwandtschaften
Von diesem einsamen Freunde [Eduard] können wir soviel sagen, dass er sich im stillen dem Gefühl seiner Leidenschaft ganz überliess und dabei mancherlei Plane sich ausdachte, mancherlei Hoffnungen nährte. Er konnte sich nicht leugnen, dass er Ottilien hier zu sehen wünsche, dass er wünsche, sie hieher zu führen, zu locken, und was er sich sonst noch Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte. Dann schwankte seine Einbildungskraft in allen Möglichkeiten herum. Sollte er sie hier nicht besitzen, nicht rechtmässig besitzen können, so wollte er ihr den Besitz des Gutes zueignen. Hier sollte sie still für sich, unabhängig leben; sie sollte glücklich sein und, wenn ihn eine selbstquälerische Einbildungskraft noch weiter führte, vielleicht mit einem andern glücklich sein.
So verflossen ihm seine Tage in einem ewigen Schwanken zwischen Hoffnung und Schmerz, zwischen Tränen und Heiterkeit, zwischen Vorsätzen, Vorbereitungen und Verzweiflung. […]. Doch wusste der Pastor nur zu gut, dass ein liebevoll beschäftigtes Gemüt das dringende Bedürfnis hat, sich zu äussern, das, was in ihm vorgeht, vor einem Freunde auszuschütten, und liess sich daher gefallen, nach einigem Hin- und Widerreden diesmal aus seiner Rolle herauszugehen und statt des Vermittlers den Vertrauten zu spielen.
Als er hiernach auf eine freundliche Weise Eduarden wegen seines einsamen Lebens tadelte, erwiderte dieser: "o, ich wüsste nicht, wie ich meine Zeit angenehmer zubringen sollte! Immer bin ich mit ihr beschäftigt, immer in ihrer Nähe. Ich habe den unschätzbaren Vorteil, mir denken zu können, wo sich Ottilie befindet, wo sie geht, wo sie steht, wo sie ausruht. Ich sehe sie vor mir tun und handeln wie gewöhnlich, schaffen und vornehmen, freilich immer das, was mir am meisten schmeichelt. Dabei bleibt es aber nicht; denn wie kann ich fern von ihr glücklich sein! Nun arbeitet meine Phantasie durch, was Ottilie tun sollte, sich mir zu nähern. Ich schreibe süsse, zutrauliche Briefe in ihrem Namen an mich, ich antworte ihr und verwahre die Blätter zusammen. Ich habe versprochen, keinen Schritt gegen sie zu tun, und das will ich halten. Aber was bindet sie, dass sie sich nicht zu mir wendet? Hat etwa Charlotte die Grausamkeit gehabt, Versprechen und Schwur von ihr zu fordern, dass sie mir nicht schreiben, keine Nachricht von sich geben wolle?
Es ist natürlich, es ist wahrscheinlich, und doch finde ich es unerhört, unerträglich. Wenn sie mich liebt, wie ich glaube, wie ich weiss, warum entschliesst sie sich nicht, warum wagt sie es nicht, zu fliehen und sich in meine Arme zu werfen? Sie sollte das, denke ich manchmal, sie könnte das. Wenn sich etwas auf dem Vorsaale regt, sehe ich gegen die Türe. Sie soll hereintreten! Denk ich, hoff ich. Ach! Und da das Mögliche unmöglich ist, bilde ich mir ein, das Unmögliche müsse möglich werden.
Nachts, wenn ich aufwache, die Lampe einen unsichern Schein durch das Schlafzimmer wirft, da sollte ihre Gestalt, ihr Geist, eine Ahnung von ihr vorüberschweben, herantreten, mich ergreifen, nur einen Augenblick, dass ich eine Art von Versicherung hätte, sie denke mein, sie sei mein.
Eine einzige Freude bleibt mir noch. Da ich ihr nahe war, träumte ich nie von ihr; jetzt aber, in der Ferne, sind wir im Traume zusammen, und sonderbar genug: seit ich andre liebenswürdige Personen hier in der Nachbarschaft kennengelernt, jetzt erst erscheint mir ihr Bild im Traum, als wenn sie mir sagen wollte: 'siehe nur hin und her! Du findest doch nichts Schöneres und Lieberes als mich.' Und so mischt sich ihr Bild in jeden meiner Träume. Alles, was mir mit ihr begegnet, schiebt sich durch- und übereinander. Bald unterschreiben wir einen Kontrakt; da ist ihre Hand und die meinige, ihr Name und der meinige; beide löschen einander aus, beide verschlingen sich. Auch nicht ohne Schmerz sind diese wonnevollen Gaukeleien der Phantasie. Manchmal tut sie etwas, das die reine Idee beleidigt, die ich von ihr habe, dann fühl ich erst, wie sehr ich sie liebe, indem ich über alle Beschreibung geängstet bin. Manchmal neckt sie mich ganz gegen ihre Art und quält mich; aber sogleich verändert sich ihr Bild, ihr schönes, rundes, himmlisches Gesichtchen verlängert sich: es ist eine andre. Aber ich bin doch gequält, unbefriedigt und zerrüttet.
Lächeln Sie nicht, lieber Pastor, oder lächeln Sie auch! O ich schäme mich nicht dieser Anhänglichkeit, dieser, wenn Sie wollen, törigen, rasenden Neigung. Nein, ich habe noch nie geliebt; jetzt erfahre ich erst, was das heisst. Bisher war alles in meinem Leben nur ein Vorspiel, nur Hinhalten, nur Zeitvertreib, nur Zeitverderb, bis ich sie kennenlernte, bis ich sie liebte und ganz und eigentlich liebte. Man hat mir nicht gerade ins Gesicht, aber doch wohl im Rücken den Vorwurf gemacht: ich pfusche, ich stümpere nur in den meisten Dingen. Es mag sein; aber ich hatte das noch nicht gefunden, worin ich mich als Meister zeigen kann. Ich will den sehen, der mich im Talent des Liebens übertrifft. Zwar ist es ein jammervolles, ein schmerzen-, ein tränenreiches; aber ich finde es mir so natürlich, so eigen, dass ich es wohl schwerlich je wieder aufgebe".
Durch diese lebhaften, herzlichen Äusserungen hatte sich Eduard wohl erleichtert; aber es war ihm auch auf einmal jeder einzelne Zug seines wunderlichen Zustandes deutlich vor die Augen getreten, dass er, vom schmerzlichen Widerstreit überwältigt, in Tränen ausbrach, die um so reichlicher flossen, als sein Herz durch Mitteilung weich geworden war.
Der Pastor, der sein rasches Naturell, seinen unerbittlichen Verstand um so weniger verleugnen konnte, als er sich durch diesen schmerzlichen Ausbruch der Leidenschaft Eduards weit von dem Ziel seiner Reise verschlagen sah, äusserte aufrichtig und derb seine Mibilligung. Eduard - hiess es - solle sich ermannen, solle bedenken, was er seiner Manneswürde schuldig sei, solle nicht vergessen, dass dem Menschen zur höchsten Ehre gereiche, im Unglück sich zu fassen, den Schmerz mit Gleichmut und Anstand zu ertragen, um höchlich geschätzt, verehrt und als Muster aufgestellt zu werden.
Aufgeregt, durchdrungen von den peinlichsten Gefühlen, wie Eduard war, mussten ihm diese Worte hohl und nichtig vorkommen. "Der Glückliche, der Behagliche hat gut reden", fuhr Eduard auf; "aber schämen würde er sich, wenn er einsähe, wie unerträglich er dem Leidenden wird. Eine unendliche Geduld soll es geben, einen unendlichen Schmerz will der starre Behagliche nicht anerkennen.
Es gibt Fälle, ja, es gibt deren! Wo jeder Trost niederträchtig und Verzweiflung Pflicht ist. Verschmäht doch ein edler Grieche, der auch Helden zu schildern weiss, keineswegs, die seinigen bei schmerzlichem Drange weinen zu lassen. Selbst im Sprüchwort sagt er: 'tränenreiche Männer sind gut.' Verlasse mich jeder, der trocknen Herzens, trockner Augen ist! Ich verwünsche die Glücklichen, denen der Unglückliche nur zum Spektakel dienen soll. Er soll sich in der grausamsten Lage körperlicher und geistiger Bedrängnis noch edel gebärden, um ihren Beifall zu erhalten, und, damit sie ihm beim Verscheiden noch applaudieren, wie ein Gladiator mit Anstand vor ihren Augen umkommen. […]
"Freilich", sagte Eduard, "hilft das Hin--und Widerdenken, das Hin--und Widerreden zu nichts; doch unter diesem Reden bin ich mich selbst erst gewahr worden, habe ich erst entschieden gefühlt, wozu ich mich entschliessen sollte, wozu ich entschlossen bin. Ich sehe mein gegenwärtiges, mein zukünftiges Leben vor mir; nur zwischen Elend und Genuss habe ich zu wählen. Bewirken Sie, bester Mann, eine Scheidung, die so notwendig, die schon geschehen ist; schaffen Sie mir Charlottens Einwilligung! Ich will nicht weiter ausführen, warum ich glaube, dass sie zu erlangen sein wird. Gehen Sie hin, lieber Mann, beruhigen Sie uns alle, machen Sie uns glücklich!"
Eduard fuhr fort: "mein Schicksal und Ottiliens ist nicht zu trennen, und wir werden nicht zugrunde gehen. Sehen Sie dieses Glas! Unsere Namenszüge sind dareingeschnitten. Ein fröhlich Jubelnder warf es in die Luft; niemand sollte mehr daraus trinken, auf dem felsigen Boden sollte es zerschellen; aber es ward aufgefangen. Um hohen Preis habe ich es wieder eingehandelt, und ich trinke nun täglich daraus, um mich täglich zu überzeugen, dass alle Verhältnisse unzerstörlich sind, die das Schicksal beschlossen hat". "O wehe mir", rief der Pastor, "was muss ich nicht mit meinen Freunden für Geduld haben! Nun begegnet mir noch gar der Aberglaube, der mir als das Schädlichste, was bei den Menschen einkehren kann, verhasst bleibt. Wir spielen mit Voraussagungen und Träumen und machen dadurch das alltägliche Leben bedeutend. Aber wenn das Leben nun selbst bedeutend wird, wenn alles um uns sich bewegt und braust, dann wird das Gewitter durch jene Gespenster nur noch fürchterlicher".
"Lassen Sie in dieser Ungewissheit des Lebens", rief Eduard, "zwischen diesem Hoffen und Bangen dem bedürftigen Herzen doch nur eine Art von Leitstern, nach welchem es hinblicke, wenn es auch nicht darnach steuern kann".
"Ich liesse mirs wohl gefallen", versetzte der Pastor, "wenn dabei nur einige Konsequenz zu hoffen wäre, aber ich habe immer gefunden: auf die warnenden Symptome achtet kein Mensch, auf die schmeichelnden und versprechenden allein ist die Aufmerksamkeit gerichtet und der Glaube für sie ganz allein lebendig". […]
Was in der Seele Eduards vorging, würde schwer zu schildern sein. In einem solchen Gedränge treten zuletzt alte Gewohnheiten, alte Neigungen wieder hervor, um die Zeit zu töten und den Lebensraum auszufüllen. Jagd und Krieg sind eine solche für den Edelmann immer bereite Aushülfe. Eduard sehnte sich nach äusserer Gefahr, um der innerlichen das Gleichgewicht zu halten. Er sehnte sich nach dem Untergang, weil ihm das Dasein unerträglich zu werden drohte; ja es war ihm ein Trost zu denken, dass er nicht mehr sein werde und eben dadurch seine Geliebten, seine Freunde glücklich machen könne. […]
Ottilie ging in sich zurück. Sie hatte nichts weiter zu sagen. Hoffen konnte sie nicht, und wünschen durfte sie nicht. Einen Blick jedoch in ihr Inneres gewährt uns ihr Tagebuch, aus dem wir einiges mitzuteilen gedenken. …
17.11. Re: Wahlverwandtschaften
Novelle
Zwei Nachbarskinder von bedeutenden Häusern, Knabe und Mädchen, in verhältnismässigem Alter, um dereinst Gatten zu werden, liess man in dieser angenehmen Aussicht miteinander aufwachsen, und die beiderseitigen Eltern freuten sich einer künftigen Verbindung. Doch man bemerkte gar bald, dass die Absicht zu misslingen schien, indem sich zwischen den beiden trefflichen Naturen ein sonderbarer Widerwille hervortrat. Vielleicht waren sie einander zu ähnlich. Beide in sich selbst gewendet, deutlich in ihrem Wollen, fest in ihren Vorsätzen; jedes einzeln geliebt und geehrt von seinen Gespielen; immer Widersacher, wenn sie zusammen waren, immer aufbauend für sich allein, immer wechselsweise zerstörend, wo sie sich begegneten, nicht wetteifernd nach einem Ziel, aber immer kämpfend um einen Zweck; gutartig durchaus und liebenswürdig und nur hassend, ja bösartig, indem sie sich aufeinander bezogen.
Dieses wunderliche Verhältnis zeigte sich schon bei kindischen Spielen, es zeigte sich bei zunehmenden Jahren. Und wie die Knaben Krieg zu spielen, sich in Parteien zu sondern, einander Schlachten zu liefern pflegen, so stellte sich das trozig mutige Mädchen einst an die Spitze des einen Heers und focht gegen das andre mit solcher Gewalt und Erbitterung, dass dieses schimpflich wäre in die Flucht geschlagen worden, wenn ihr einzelner Widersacher sich nicht sehr brav gehalten und seine Gegnerin doch noch zuletzt entwaffnet und gefangengenommen hätte. Aber auch da noch wehrte sie sich so gewaltsam, dass er, um seine Augen zu erhalten und die Feindin doch nicht zu beschäftigen, sein seidenes Halstuch abreissen und ihr die Hände damit auf den Rücken binden musste.
Dies verzieh sie ihm nie, ja sie machte so heimliche Anstalten und Versuche, ihn zu beschädigen, dass die Eltern, die auf diese seltsamen Leidenschaften schon längst achtgehabt, sich miteinander verständigen und beschlossen, die beiden feindlichen Wesen zu trennen und jene lieblichen Hoffnungen aufzugeben.
Der Knabe tat sich in seinen neuen Verhältnissen bald hervor. Jede Art von Unterricht schlug bei ihm an. Gönner und eigene Neigung bestimmten ihn zum Soldatenstande. überall, wo er sich fand, war er geliebt und geehrt. Seine tüchtige Natur schien nur zum Wohlsein, zum Behagen anderer zu wirken, und er war in sich, ohne deutliches Bewusstsein, recht glücklich, den einzigen Widersacher verloren zu haben, den die Natur ihm zugedacht hatte.
Das Mädchen dagegen trat auf einmal in einen veränderten Zustand. Ihre Jahre, eine zunehmende Bildung und mehr noch ein gewisses inneres Gefühl zogen sie von den heftigen Spielen hinweg, die sie bisher in Gesellschaft der Knaben auszuüben pflegte. Im ganzen schien ihr etwas zu fehlen, nichts war um sie herum, das wert gewesen wäre, ihren Hass zu erregen. Liebenswürdig hatte sie noch niemanden gefunden.
Ein junger Mann, älter als ihr ehemaliger nachbarlicher Widersacher, von Stand, Vermögen und Bedeutung, beliebt in der Gesellschaft, gesucht von Frauen, wendete ihr seine ganze Neigung zu. Es war das erstemal, dass sich ein Freund, ein Liebhaber, ein Diener um sie bemühte. Der Vorzug, den er ihr vor vielen gab, die älter, gebildeter, glänzender und anspruchsreicher waren als sie, tat ihr gar zu wohl. Seine fortgesetzte Aufmerksamkeit, ohne dass er zudringlich gewesen wäre, sein treuer Beistand bei verschiedenen unangenehmen Zufällen, sein gegen ihre Eltern zwar ausgesprochnes, doch ruhiges und nur hoffnungsvolles Werben, da sie freilich noch sehr jung war: das alles nahm sie für ihn ein, wozu die Gewohnheit, die äussern, nun von der Welt als bekannt angenommenen Verhältnisse das Ihrige beitrugen. Sie war so oft Braut genannt worden, dass sie sich endlich selbst dafür hielt, und weder sie noch irgend jemand dachte daran, dass noch eine Prüfung nötig sei, als sie den Ring mit demjenigen wechselte, der so lange Zeit für ihren Bräutigam galt.
Der ruhige Gang, den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch das Verlöbnis nicht beschleunigt worden. Man liess eben von beiden Seiten alles so fortgewähren, man freute sich des Zusammenlebens und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch als einen Frühling des künftigen ernsteren Lebens geniessen.
Indessen hatte der Entfernte sich zum schönsten ausgebildet, eine verdiente Stufe seiner Lebensbestimmung erstiegen und kam mit Urlaub, die Seinigen zu besuchen. Auf eine ganz natürliche, aber doch sonderbare Weise stand er seiner schönen Nachbarin abermals entgegen. Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, bräutliche Familienempfindungen bei sich genährt, sie war mit allem, was sie umgab, in übereinstimmung; sie glaubte glücklich zu sein und war es auch auf gewisse Weise. Aber nun stand ihr zum erstenmal seit langer Zeit wieder etwas entgegen: es war nicht hassenswert; sie war des Hasses unfähig geworden, ja der kindische Hass, der eigentlich nur ein dunkles Anerkennen des inneren Wertes gewesen, äusserte sich nun in frohem Erstaunen, erfreulichem Betrachten, gefälligem Eingesthen, halb willigem halb unwilligem und doch notwendigem Annahen, und das alles war wechselseitig. Eine lange Entfernung gab zu längeren Unterhaltungen Anlass. Selbst jene kindische Unvernunft diente den Aufgeklärteren zu scherzhafter Erinnerung, und es war, als wenn man sich jenen neckischen Hass wenigstens durch eine freundschaftliche, aufmerksame Behandlung vergüten müsse, als wenn jenes gewaltsame Verkennen nunmehr nicht ohne ein ausgesprochenes Anerkennen bleiben dürfe.
Von seiner Seite blieb alles in einem verständigen, wünschenswerten Mass. Sein Stand, seine Verhältnisse, sein Streben, sein Ehrgeiz beschäftigten ihn so reichlich, dass er die Freundlichkeit der schönen Braut als eine dankenswerte Zugabe mit Behaglichkeit aufnahm, ohne sie deshalb in irgendeinem Bezug auf sich zu betrachten oder sie ihrem Bräutigam zu missgönnen, mit dem er übrigens in den besten Verhältnissen stand.
Bei ihr hingegen sah es ganz anders aus. Sie schien sich wie aus einem Traum erwacht. Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter der Form des Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung. Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als dass sie ihn immer geliebt habe. Sie lächelte über jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand; sie wollte sich des angenehmsten Gefühls erinnern, als er sie entwaffnete; sie bildete sich ein, die grösste Seligkeit empfunden zu haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und Verdruss unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie verwünschte jene Trennung, sie bejammerte den Schlaf, in den sie verfallen, sie verfluchte die schleppende, träumerische Gewohnheit, durch die ihr ein so unbedeutender Bräutigam hatte werden können; sie war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwärts und rückwärts, wie man es nehmen will.
Hätte jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheimhielt, entwickeln und mit ihr teilen können, so würde er sie nicht gescholten haben; denn freilich konnte der Bräutigam die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aushalten, sobald man sie nebeneinander sah. Wenn man dem einen ein gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so erregte der andere das vollste Vertrauen; wenn man den einen gern zur Gesellschaft mochte, so wünschte man sich den andern zum Gefährten; und dachte man gar an höhere Teilnahme, an ausserordentliche Fälle, so hätte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere vollkommene Gewissheit gab. Für solche Verhältnisse ist den Weibern ein besonderer Takt angeboren, und sie haben Ursache sowie Gelegenheit, ihn auszubilden.
Je mehr die schöne Braut solche Gesinnungen bei sich ganz heimlich nährte, je weniger nur irgend jemand dasjenige auszusprechen im Fall war, was zugunsten des Bräutigams gelten konnte, was Verhältnisse, was Pflicht anzuraten und zu gebieten, ja was eine unabänderliche Notwendigkeit unwiderruflich zu fordern schien, desto mehr begünstigte das schöne Herz seine Einseitigkeit; und indem sie von der einen Seite durch Welt und Familie, Bräutigam und eigne Zusage unauflöslich gebunden war, von der andern der emporstrebende Jüngling gar kein Geheimnis von seinen Gesinnungen, Planen und Aussichten machte, sich nur als ein treuer und nicht einmal zärtlicher Bruder gegen sie bewies und nun gar von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war, so schien es, als ob ihr früher kindischer Geist mit allen seinen Tücken und Gewaltsamkeiten wiedererwachte und sich nun auf einer höheren Lebensstufe mit Unwillen rüstete, bedeutender und verderblicher zu wirken. Sie beschloss zu sterben, um den ehemals Gehassten und nun so heftig Geliebten für seine Unteilnahme zu strafen und sich, indem sie ihn nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft, seiner Reue auf ewig zu vermählen. Er sollte ihr totes Bild nicht loswerden, er sollte nicht aufhören, sich Vorwürfe zu machen, dass er ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht erforscht, nicht geschätzt habe.
Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie überallhin. Sie verbarg ihn unter allerlei Formen; und ob sie den Menschen gleich wunderlich vorkam, so war niemand aufmerksam oder klug genug, die innere, wahre Ursache zu entdecken.
Indessen hatten sich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von Mancherlei Festen erschöpft. Kaum verging ein Tag, dass nicht irgend etwas Neues und Unerwartetes angestellt worden wäre. Kaum war ein schöner Platz der Landschaft, den man nicht ausgeschmückt und zum Empfang vieler froher Gäste bereitet hätte. Auch wollte unser junger Ankömmling noch vor seiner Abreise das Seinige tun und lud das junge Paar mit einem engeren Familienkreise zu einer Wasserlustfahrt. Man bestieg ein grosses, schönes, wohlausgeschmücktes Schiff, eine der Jachten, die einen kleinen Saal und einige Zimmer anbieten und auf das Wasser die Bequemlichkeit des Landes überzutragen suchen.
Man fuhr auf dem grossen Strome mit Musik dahin; die Gesellschaft hatte sich bei heisser Tageszeit in den untern Räumen versammelt, um sich an Geistes--und Glücksspielen zu ergötzen. Der junge Wirt, der niemals untätig bleiben konnte, hatte sich ans Steuer gesetzt, den alten Schiffsmeister abzulösen, der an seiner Seite eingeschlafen war; und eben brauchte der Wachende alle seine Vorsicht, da er sich einer Stelle nahte, wo zwei Inseln das Flussbette verengten und, indem sie ihre flachen Kiesufer bald an der einen, bald an der andern Seite hereinstreckten, ein gefährliches Fahrwasser zubereiteten. Fast war der sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung, den Meister zu wecken, aber er getraute sichs zu und fuhr gegen die Enge. In dem Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schöne Feindin mit einem Blumenkranz in den Haaren. Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden. "Nimm dies zum Andenken!" rief sie aus. "Störe mich nicht!" rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing; "ich bedarf aller meiner Kräfte und meiner Aufmerksamkeit". -"Ich störe dich nicht weiter", rief sie; "du siehst mich nicht wieder!" Sie sprachs und eilte nach dem Vorderteil des Schiffs, von da sie ins Wasser sprang. Einige Stimmen riefen: "rettet! Rettet! Sie ertrinkt". Er war in der entsetzlichsten Verlegenheit. Über dem Lärm erwacht der alte Schiffsmeister, will das Ruder ergreifen, der jüngere es ihm übergeben, aber es ist keine Zeit, die Herrschaft zu wechseln: das Schiff strandet, und in eben dem Augenblick, die lästigsten Kleidungsstücke wegwerfend, stürzte er sich ins Wasser und schwamm der schönen Feinden nach.
Das Wasser ist ein freundliches Element für den, der damit bekannt ist und es zu behandeln weiss. Es trug ihn, und der geschickte Schwimmer beherrschte es. Bald hatte er die vor ihm fortgerissene Schöne erreicht; er fasste sie, wusste sie zu heben und zu tragen; beide wurden vom Strom gewaltsam fortgerissen, bis sie die Inseln, die Werder weit hinter sich hatten und der Fluss wieder breit und gemächlich zu fliessen anfing. Nun erst ermannte, nun erholte er sich aus der ersten zudringenden Not, in der er ohne Besinnung nur mechanisch gehandelt; er blickte mit emporstrebendem Haupt umher und ruderte nach Vermögen einer flachen, buschichten Stelle zu, die sich angenehm und gelegen in den Fluss verlief. Dort brachte er seine schöne Beute aufs Trockne; aber kein Lebenshauch war in ihr zu spüren. Er war in Verzweiflung, als ihm ein betretener Pfad, der durchs Gebüsch lief, in die Augen leuchtete. Er belud sich aufs neue mit der teuren Last, er erblickte bald eine einsame Wohnung und erreichte sie. Dort fand er gute Leute, ein junges Ehepaar. Das Unglück, die Not sprach sich geschwind aus. Was er nach einiger Besinnung forderte, ward geleistet. Ein lichtes Feuer brannte, wollne Decken wurden über ein Lager gebreitet, Pelze, Felle und was Erwärmendes vorrätig war, schnell herbeigetragen. Hier überwand die Begierde zu retten jede andre Betrachtung. Nichts ward versäumt, den schönen, halbstarren, nackten Körper wieder ins Leben zu rufen. Es gelang. Sie schlug die Augen auf, sie erblickte den Freund, umschlang seinen Hals mit ihren himmlischen Armen. So blieb sie lange; ein Tränenstrom stürzte aus ihren Augen und vollendete ihre Genesung. "Willst du mich verlassen", rief sie aus, "da ich dich so wiederfinde?"--"Niemals", rief er, "niemals!" und wusste nicht, was er sagte noch was er tat. "Nur schone dich", rief er hinzu, "schone dich! Denke an dich um deinet--und meinetwillen".
Sie dachte nun an sich und bemerkte jetzt erst den Zustand, in dem sie war. Sie konnte sich vor ihrem Liebling, ihrem Retter nicht schämen; aber sie entliess ihn gern, damit er für sich sorgen möge; denn noch war, was ihn umgab, nass und triefend.
Die jungen Eheleute beredeten sich; er bot dem Jüngling und sie der Schönen das Hochzeitskleid an, das noch vollständig dahing, um ein Paar von Kopf zu Fuss und von innen heraus zu bekleiden. In kurzer Zeit waren die beiden Abenteurer nicht nur angezogen, sondern geputzt. Sie sahen allerliebst aus, staunten einander an, als sie zusammentraten, und fielen sich mit unmässiger Leidenschaft, und doch halb lächelnd über die Vermummung, gewaltsam in die Arme. Die Kraft der Jugend und die Regsamkeit der Liebe stellten sie in wenigen Augenblicken völlig wieder her, und es fehlte nur die Musik, um sie zum Tanz aufzufordern.
Sich vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreise in eine Wildnis, aus der Verzweiflung zum Entzücken, aus der Gleichgültigkeit zur Neigung, zur Leidenschaft gefunden zu haben, alles in einem Augenblick--der Kopf wäre nicht hinreichend, das zu fassen; er würde zerspringen oder sich verwirren. Hiebei muss das Herz das Beste tun, wenn eine solche überraschung ertragen werden soll.
Ganz verloren eins ins andere, konnten sie erst nach einiger Zeit an die Angst, an die Sorgen der Zurückgelassenen denken, und fast konnten sie selbst nicht ohne Angst, ohne Sorge daran denken, wie sie jenen wiederbegegnen wollten. "Sollen wir fliehen? Sollen wir uns verbergen?" sagte der Jüngling. "Wir wollen zusammenbleiben", sagte sie, indem sie an seinem Hals hing.
Der Landmann, der von ihnen die Geschichte des gestrandeten Schiffs vernommen hatte, eilte, ohne weiter zu fragen, nach dem Ufer. Das Fahrzeug kam glücklich einhergeschwommen; es war mit vieler Mühe losgebracht worden. Man fuhr aufs ungewisse fort, in Hoffnung, die Verlornen wiederzufinden. Als daher der Landmann mit Rufen und Winken die Schiffenden aufmerksam machte, an eine Stelle lief, wo ein vorteilhafter Landungsplatz sich zeigte, und mit Winken und Rufen nicht aufhörte, wandte sich das Schiff nach dem Ufer, und welch ein Schauspiel ward es, da sie landeten! Die Eltern der beiden Verlobten drängten sich zuerst ans Ufer; den liebenden Bräutigam hatte fast die Besinnung verlassen. Kaum hatten sie vernommen, dass die lieben Kinder gerettet seien, so traten diese in ihrer sonderbaren Verkleidung aus dem Busch hervor. Man erkannte sie nicht eher, als bis sie ganz herangetreten waren. "Wenn seh ich?" riefen die Mütter. "Was seh ich?" riefen die Väter. Die Geretteten warfen sich vor ihnen nieder. "Eure Kinder!" riefen sie aus, "ein Paar". -"Verzeiht!" rief das Mädchen. "Gebt uns Euren Segen!" rief der Jüngling. "Gebt uns Euren Segen!" riefen beide, da alle Welt staunend verstummte. "Euren Segen!" ertönte es zum drittenmal, und wer hätte den versagen können!
17.11. Re: Wahlverwandtschaften
Uff, das ist aber anstrengend… ;-) Zumindest, wenn man es auf seinem iPhone lesen muss… Das klingt nach einer ziemlichen Kratzbürste, die da rumwütet… Und es klingt so danach, als ob sie sich viel einbildet bzw. viel deutet, wie es ihr gerade einfällt… Und so, als ob der holde Knabe eigentlich gar nicht genau versteht, was gerade abgeht, sondern nur von ihr manipuliert wird… :-(. Sympathisch finde ich die Dame gerade irgendwie nicht. Das löst Beklemmung aus… Ich würde mich allerdings nicht in die Fluten stürzen, um Dir für den Rest Deines Lebens ein schlechtes Gewissen zu machen!
17.11. Re: Wahlverwandtschaften
> Uff, das ist aber anstrengend… ;-) <
Hast Du denn durchgehalten bis zum Schluß?
Ich habe die 244 Seiten bald durch und bin deshalb in Übung :-)
> Das klingt nach einer ziemlichen Kratzbürste, die da rumwütet… < Das habe ich aber anders verstanden. Das Kratzbürstige war doch lediglich die erste und ihr zu diesem Zeitpunkt einzig mögliche Form, ihre Leidenschaft auszudrücken, und das (unbewußt) eingesetzte Mittel, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. „Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter der Form des Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung. Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als dass sie ihn immer geliebt habe. … Sie bildete sich ein, die grösste Seligkeit empfunden zu haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und Verdruss unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie verwünschte jene Trennung, … <. Je heftiger (leidenschaftlicher) Frauen „nein“ sagen und abgeneigt zu sein scheinen, um so mehr meinen sie „ja“ oder so ähnlich ;-); das wußte Goethe natürlich auch :-D)). (Scherz)
Die kleine Geschichte soll ja nur veranschaulichen, daß die Beiden füreinander bestimmt waren, ohne es zu begreifen und ihr Verhalten als Ausdruck der Zuneigung zu deuten und es erst einiger Umwege und klärender Begebenheiten bedurfte, bis sich diese Bestimmung Beiden offenbarte und gelebt werden konnte. :-)
> Ich würde mich allerdings nicht in die Fluten stürzen, um Dir für den Rest Deines Lebens ein schlechtes Gewissen zu machen! < Wahrscheinlich hat sie bei dieser theatralischen Inszenierung (zumindest unbewußt) gehofft oder gar kalkuliert, daß er sie rettet und die Geschichte dadurch die gewünschte Wendung erfährt (sonst hätte sie ihr Leben ja auch unbeobachtet beenden können). Manch einer braucht ja einen Tritt in den Hintern, um es zu kapieren ;-). Der Trick ist nicht sehr originell, aber wirkungsvoll (wenn es tatsächlich der Richtige ist; da sollte man sich vorher natürlich einigermaßen sicher sein…). Vielleicht hättest Du so eine Masche vor 19 Jahren auch mal ausprobieren sollen :-). Es hätte nicht unbedingt ein Sprung in Rhein oder Ruhr sein müssen, um Dich (scheinbar) in Gefahr zu bringen. Ein simulierter Suizidversuch mit Placebos oder etwas Ähnliches hätte sicher auch einen Effekt provozieren können ;-). In der Geschichte war die Strategie zumindest erfolgreich ;-). Ich denke da jetzt im Bett bestimmt nochmal drüber nach …
Gute Nacht Süße
:-*
18.11. Re: Wahlverwandtschaften
Gut, dass Du mir noch einmal Deine Interpretation mitgeteilt hast, das klingt irgendwie logisch. Aber irgendwie hat mich diese ganze Geschichte jetzt gerade wieder stimmungsmäßig gedämpft. Vielleicht hätte ich mich doller in den Vordergrund drängen sollen, wer weiß. Kann ich jetzt aber auch nicht mehr ändern. :-(
18.11. Re: Wahlverwandtschaften
So, jetzt habe ich es auch endlich geschafft, diesen langen Textabschnitt zu Ende zu lesen…n:-)
Das ist natürlich alles sehr bitter und verzweifelt. Was sagt denn Ottiliens Tagebuch…? Und wie findest Du das Buch, nachdem Du es fast durch hast? Gibt es irgendwelche tollen Erkenntnisse? Ich habe mich ja erdreistet und einfach die Inhaltsangabe gelesen. Ich habe es als turbulent, aber nicht unbedingt Geistesblitz einbringend in Erinnerung.
Ich weiß gar nicht, ob ich das gerade gut lesen könnte oder ob mich das zu fertig machen würde…
17.11. Re: Wahlverwandtschaften
Hier kommen die letzten relevanten Passagen und Dialage, unsere Situation betreffend (lies sie besser am Rechner ...). Tolle Erkenntnisse und Geistesblitze gibt es für uns sicher nicht, da sich ja Einiges ähnelt, sondern eher eine weitere (beruhigende) Gewißheit, daß jedes bedeutende zwischenmenschliche Problem zeitlos ist und schon zigmal durchlebt und durchdacht wurde. Das Hauptthema des Romans ist deshalb völlig aktuell – keine neuen bzw. alten Erkenntnisse – es war schon immer kompliziert L. Und die verschiedenen Parteien bringen alle typischen Argumente pro und kontra (siehe unten); aber Eduard lässt sich selbstverständlich durch nichts von seinem Plan der Scheidung von Charlotte und Vereinigung mit Ottilie abbringen in seinem Wahn ;-). Nur der vorgeschlagene Partnertausch als elegante und alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung kommt bei uns wohl nicht nicht in Betracht, hier ist das Setting etws abweichend ;-). Ich finde es ganz spannend zu lesen, wie man mit dieser komplizierten Situation unter etwas anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (und hier in adeligen Kreisen) umgegangen ist. Und ich mag diese antiquierte Sprache auch mal ganz gerne lesen: wie wohlklingend und gewählt und präzise und grammatikalisch komplex manche Person sich damals ausdrücken konnte (genau wie die schönen, kunstvollen Handschriften, die es heute nicht mehr gibt und die man vielleicht überhaupt nur mit einer Feder hinbekommt). Ich hätte nicht gedacht, daß man ein für die damalige Zeit dermaßen skandalöses Thema wie einen doppelten Ehebruch so öffentlich darstellen und diskutieren konnte. Interessant und realitätsfern ist die mehrfach beschriebene Physiognomie des im Chaos gezeugten Kindes: sie ähnelt natürlich nicht den Eltern (tatsächlich Charlotte und Eduard in einer unbedachten Stunde …), sondern deren beiden Geliebten (Ottilie, Hauptmann). Im Kind ist der Ehebruch also sozusagen für alle sichtbar und zu deren Erschrecken fixiert; die Ursache hierfür muß wohl jenseits natürlich erklärbarer Phänomene im Metaphysischen zu suchen sein … Das Ende ist sehr pathetisch-dramatisch und unglaubwürdig (sie verhungert sozusagen bewußt und willentlich aus Verzweiflung und er stirbt bald darauf aus Gram einfach so …). Hier hoffe ich bei uns doch auf eine etwas günstigere Wendung ;-). Fertig gemacht hat mich das Lesen nicht trotz mancher Parallele - vermutlich kann mich diesbezüglich inzwischen nichts mehr erschüttern ;-).
"Ich kann und darf nicht hinterhältig sein", fuhr Eduard fort; "ich muss dir meine Gesinnungen und Vorsätze sogleich entdecken. Du kennst meine Leidenschaft für Ottilien und hast längst begriffen, dass sie es ist, die mich in diesen Feldzug gestürzt hat. Ich leugne nicht, dass ich gewünscht hatte, ein Leben loszuwerden, das mir ohne sie nichts weiter nütze war; allein zugleich muss ich dir gestehen, dass ich es nicht über mich gewinnen konnte, vollkommen zu verzweifeln. Das Glück mit ihr war so schön, so wünschenswert, dass es mir unmöglich blieb, völlig Verzicht darauf zu tun. So manche tröstliche Ahnung, so manches heitere Zeichen hatte mich in dem Glauben, in dem Wahn bestärkt, Ottilie könne die Meine werden. Ein Glas mit unserm Namenszug bezeichnet, bei der Grundsteinlegung in die Lüfte geworfen, ging nicht zu Trümmern; es ward aufgefangen und ist wieder in meinen Händen. 'So will ich mich denn selbst', rief ich mir zu, als ich an diesem einsamen Orte soviel zweifelhafte Stunden verlebt hatte, 'mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob unsre Verbindung möglich sei oder nicht. Ich gehe hin und suche den Tod, nicht als ein Rasender, sondern als einer, der zu leben hofft. Ottilie soll der Preis sein, um den ich kämpfe; sie soll es sein, die ich hinter jeder feindlichen Schlachtordnung, in jeder Verschanzung, in jeer belagerten Festung zu gewinnen, zu erobern hoffe. Ich will Wunder tun mit dem Wunsche, verschont zu bleiben, im Sinne, Ottilien zu gewinnen, nicht sie zu verlieren'. Diese Gefühle haben mich geleitet, sie haben mir durch alle Gefahren beigestanden; aber nun finde ich mich auch wie einen, der zu seinem Ziele gelangt ist, der alle Hindernisse überwunden hat, dem nun nichts mehr im Wege steht. Ottilie ist mein, und was noch zwischen diesem Gedanken und der Ausführung liegt, kann ich nur für nichts bedeutend ansehen".
"Du löschest", versetzte der Major, "mit wenig Zügen alles aus, was man dir entgegensetzen könnte und sollte; und doch muss es wiederholt werden. Das Verhältnis zu deiner Frau in seinem ganzen Werte dir zurückzurufen, überlasse ich dir selbst; aber du bist es ihr, du bist es dir schuldig, dich hierüber nicht zu verdunkeln. Wie kann ich aber nur gedenken, dass euch ein Sohn gegeben ist, ohne zugleich auszusprechen, dass ihr einander auf immer angehört, dass ihr um dieses Wesens willen schuldig seid, vereint zu leben, damit ihr vereint für seine Erziehung und für sein künftiges Wohl sorgen möget".
"Es ist bloss ein Dünkel der Eltern", versetzte Eduard, "wenn sie sich einbilden, dass ihr Dasein für die Kinder so nötig sei. Alles, was lebt, findet Nahrung und Beihülfe; und wenn der Sohn nach dem frühen Tode des Vaters keine so bequeme, so begünstigte Jugend hat, so gewinnt er vielleicht ebendeswegen an schnellerer Bildung für die Welt, durch zeitiges Anerkennen, dass er sich in andere schicken muss, was wir denn doch früher oder später alle lernen müssen. Und hievon ist ja die Rede gar nicht: wir sind reich genug, um mehrere Kinder zu versorgen, und es ist keineswegs Pflicht noch Wohltat, auf Ein Haupt so viele Güter zu häufen".
Als der Major mit einigen Zügen Charlottens Wert und Eduards lange bestandenes Verhältnis zu ihr anzudeuten gedachte, fiel ihm Eduard hastig in die Rede: "wir haben eine Torheit begangen, die ich nur allzuwohl einsehe. Wer in einem gewissen Alter frühere Jugendwünsche und Hoffnungen realisieren will, betrügt sich immer; denn jedes Jahrzehnt des Menschen hat sein eigenes Glück, seine eigenen Hoffnungen und Aussichten. Wehe dem Menschen, der vorwärts oder rückwärts zu greifen durch Umstände oder durch Wahn veranlasst wird! Wir haben eine Torheit begangen; soll sie es denn fürs ganze Leben sein? Sollen wir uns aus irgendeiner Art von Bedenklichkeit dasjenige versagen, was uns die Sitten der Zeit nicht absprechen? In wie vielen Dingen nimmt der Mensch seinen Vorsatz, seine Tat zurück, und hier gerade sollte es nicht geschehen, wo vom Ganzen und nicht vom Einzelnen, wo nicht von dieser oder jener Bedingung des Lebens, wo vom ganzen Komplex des Lebens die Rede ist!"
Der Major verfehlte nicht, auf eine ebenso geschickte als nachdrückliche Weise Eduarden die verschiedenen Bezüge zu seiner Gemahlin, zu den Familien, zu der Welt, zu seinen Besitzungen vorzustellen; aber es gelang ihm nicht, irgendeine Teilnahme zu erregen. "Alles dieses, mein Freund", erwiderte Eduard, "ist mir vor der Seele vorbeigegangen, mitten im Gewühl der Schlacht, wenn die Erde vom anhaltenden Donner bebte, wenn die Kugeln sausten und pfiffen, rechts und links die Gefährten niederfielen, mein Pferd getroffen, mein Hut durchlöchert ward; es hat mir vorgeschwebt beim stillen nächtlichen Feuer unter dem gestirnten Gewölbe des Himmels. Dann traten mir alle meine Verbindungen vor die Seele; ich habe sie durchgedacht, durchgefühlt; ich habe mir zugeeignet, ich habe mich abgefunden, zu wiederholten Malen, und nun für immer.
In solchen Augenblicken, wie kann ich dirs verschweigen, warst auch du mir gegenwärtig, auch du gehörtest in meinen Kreis; und gehören wir denn nicht schon lange zueinander? Ich weiss, du liebst Charlotten, und sie verdient es; ich weiss, du bist ihr nicht gleichgültig, und warum sollte sie deinen Wert nicht erkennen! Nimm sie von meiner Hand, führe mir Ottilien zu! Und wir sind die glücklichsten Menschen auf der Erde". "
Eben weil du mich mit so hohen Gaben bestechen willst", versetzte der Major, "muss ich desto vorsichtiger, desto strenger sein. Anstatt dass dieser Vorschlag, den ich still verehre, die Sache erleichtern möchte, erschwert er sie vielmehr. Es ist, wie von dir, nun auch von mir die Rede, und so wie von dem Schicksal, so auch von dem guten Namen, von der Ehre zweier Männer, die, bis jetzt unbescholten, durch diese wunderliche Handlung, wenn wir sie auch nicht anders nennen wollen, in Gefahr kommen, vor der Welt in einem höchst seltsamen Lichte zu erscheinen".
"Eben dass wir unbescholten sind", versetzte Eduard, "gibt uns das Recht, uns auch einmal schelten zu lassen. Wer sich sein ganzes Leben als einen zuverlässigen Mann bewiesen, der macht eine Handlung zuverlässig, die bei andern zweideutig erscheinen würde. Was mich betrifft, ich fühle mich durch die letzten Prüfungen, die ich mir auferlegt, durch die schwierigen, gefahrvollen Taten, die ich für andere getan, berechtigt, auch etwas für mich zu tun. Was dich und Charlotten betrifft, so sei es der Zukunft anheimgegeben; mich aber wirst du, wird niemand von meinem Vorsatze zurückhalten. Will man mir die Hand bieten, so bin ich auch wieder zu allem erbötig; will man mich mir selbst überlassen oder mir wohl gar entgegen sein, so muss ein Extrem entstehen, es werde auch, wie es wolle".
Der Major hielt es für seine Pflicht, dem Vorsatz Eduards solange als möglich Widerstand zu leisten, und er bediente sich nun gegen seinen Freund einer klugen Wendung, indem er nachzugeben schien und nur die Form, den Geschäftsgang zur Sprache brachte, durch welchen man diese Trennung, diese Verbindungen erreichen sollte. Da trat denn so manches Unerfreuliche, Beschwerliche, Unschickliche hervor, dass sich Eduard in die schlimmste Laune versetzt fühlte.
"Ich sehe wohl", rief dieser endlich, "nicht allein von Feinden, sondern auch von Freunden muss, was man wünscht, erstürmt werden. Das, was ich will, was mir unentbehrlich ist, halte ich fest im Auge; ich werde es ergreifen und gewiss bald und behende. Dergleichen Verhältnisse, weiss ich wohl, heben sich nicht auf und bilden sich nicht, ohne dass manches falle, was steht, ohne dass manches weiche, was zu beharren Lust hat. Durch überlegung wird so etwas nicht geendet; vor dem Verstande sind alle Rechte gleich, und auf die steigende Waagschale lässt sich immer wieder ein Gegengewicht legen. Entschliesse dich also, mein Freund, für mich, für dich zu handeln, für mich, für dich diese Zustände zu entwirren, aufzulösen, zu verknüpfen! Lass dich durch keine Betrachtungen abhalten; wir haben die Welt ohnehin schon von uns reden machen; sie wird noch einmal von uns reden, uns sodann, wie alles übrige, was aufhört neu zu sein, vergessen und uns gewähren lassen, wie wir können, ohne weitern Teil an uns zu nehmen".
Der Major hatte keinen andern Ausweg und musste endlich zugeben, dass Eduard ein für allemal die Sache als etwas Bekanntes und Vorausgesetztes behandelte, dass er, wie alles anzustellen sei, im einzelnen durchsprach und sich über die Zukunft auf das heiterste, sogar in Scherzen erging.
Dann wieder ernsthaft und nachdenklich fuhr er fort: "wollten wir uns der Hoffnung, der Erwartung überlassen, dass alles sich von selbst wieder finden, dass der Zufall uns leiten und begünstigen solle, so wäre dies ein sträflicher Selbstbetrug. Auf diese Weise können wir uns unmöglich retten, unsre allseitige Ruhe nicht wiederherstellen; und wie sollte ich trösten können, da ich unschuldig die Schuld an allem bin! Durch meine Zudringlichkeit habe ich Charlotten vermocht, dich ins Haus zu nehmen, und auch Ottilie ist nur in Gefolg von dieser Veränderung bei uns eingetreten. Wir sind nicht mehr Herr über das, was daraus entsprungen ist, aber wir sind Herr, es unschädlich zu machen, die Verhältnisse zu unserm Glücke zu leiten. Magst du die Augen von den schönen und freundlichen Aussichten abwenden, die ich uns eröffne, magst du mir, magst du uns allen ein trauriges Entsagen gebieten, insofern du dirs möglich denkst, insofern es möglich wäre: ist denn nicht auch alsdann, wenn wir uns vornehmen, in die alten Zustände zurückzukehren, manches Unschickliche, Unbequeme, Verdriessliche zu übertragen, ohne dass irgend etwas Gutes, etwas Heiteres daraus entspränge? Würde der glückliche Zustand, in dem du dich befindest, dir wohl Freude machen, wenn du gehindert wärst, mich zu besuchen, mit mir zu leben? Und nach dem, was vorgegangen ist, würde es doch immer peinlich sein. Charlotte und ich würden mit allem unserm Vermögen uns nur in einer traurigen Lage befinden. Und wenn du mit andern Weltmenschen glauben magst, dass Jahre, dass Entfernung solche Empfindungen abstumpfen, so tief eingegrabene Züge auslöschen, so ist ja eben von diesen Jahren die Rede, die man nicht in Schmerz und Entbehren, sondern in Freude und Behagen zubringen will. […]
Völlig fremde und gegeneinander gleichgültige Menschen, wenn sie eine Zeitlang zusammenleben, kehren ihr Inneres wechselseitig heraus, und es muss eine gewisse Vertraulichkeit entstehen. Um so mehr lässt sich erwarten, dass unsern beiden Freunden, indem sie wieder nebeneinander wohnten, täglich und stündlich zusammen umgingen, gegenseitig nichts verborgen blieb. Sie wiederholten das Andenken ihrer früheren Zustände, und der Major verhehlte nicht, dass Charlotte Eduarden, als er von Reisen zurückgekommen, Ottilien zugedacht, dass sie ihm das schöne Kind in der Folge zu vermählen gemeint habe. Eduard, bis zur Verwirrung entzückt über diese Entdeckung, sprach ohne Rückhalt von der gegenseitigen Neigung Charlottens und des Majors, die er, weil es ihm gerade bequem und günstig war, mit lebhaften Farben ausmalte.
Ganz leugnen konnte der Major nicht und nicht ganz eingestehen; aber Eduard befestigte, bestimmte sich nur mehr. Er dachte sich alles nicht als möglich, sondern als schon geschehen. Alle Teile brauchten nur in das zu willigen, was sie wünschten; eine Scheidung war gewiss zu erlangen; eine baldige Verbindung sollte folgen, und Eduard wollte mit Ottilien reisen.
Unter allem, was die Einbildungskraft sich Angenehmes ausmalt, ist vielleicht nichts Reizenderes, als wenn Liebende, wenn junge Gatten ihr neues, frisches Verhältnis in einer neuen, frischen Welt zu geniessen und einen dauernden Bund an soviel wechselnden Zuständen zu prüfen und zu bestätigen hoffen. Der Major und Charlotte sollten unterdessen unbeschränkte Vollmacht haben, alles, was sich auf Besitz, Vermögen und die irdischen wünschenswerten Einrichtungen bezieht, dergestalt zu ordnen und nach Recht und Billigkeit einzuleiten, dass alle Teile zufrieden sein könnten. Worauf jedoch Eduard am allrmeisten zu fussen, wovon er sich den grössten Vorteil zu versprechen schien, war dies: da das Kind bei der Mutter bleiben sollte, so würde der Major den Knaben erziehen, ihn nach seinen Einsichten leiten, seine Fähigkeiten entwickeln können. Nicht umsonst hatte man ihm dann in der Taufe ihren beiderseitigen Namen Otto gegeben.
Das alles war bei Eduarden so fertig geworden, dass er keinen Tag länger anstehen mochte, der Ausführung näherzutreten. […] Auf einmal erblickten sie in der Ferne das neue Haus auf der Höhe, dessen rote Ziegeln sie zum erstenmal blinken sahen. Eduarden ergreift eine unwiderstehliche Sehnsucht; es soll noch diesen Abend alles abgetan sein. In einem ganz nahen Dorfe will er sich verborgen halten; der Major soll die Sache Charlotten dringend vorstellen, ihre Vorsicht überraschen und durch den unerwarteten Antrag sie zu freier Eröffnung ihrer Gesinnung nötigen. Denn Eduard, der seine Wünsche auf sie übergetragen hatte, glaubte nicht anders, als dass er ihren entschiedenen Wünschen entgegenkomme, und hoffte eine so schnelle Einwilligung von ihr, weil er keinen andern Willen haben konnte.
Der Major ritt nach dem Schlosse zu. Eduard indessen, von unüberwindlicher Ungeduld getrieben, schlich aus seinem Hinterhalte durch einsame Pfade, nur Jägern und Fischern bekannt, nach seinem Park und fand sich gegen Abend im Gebüsch in der Nachbarschaft des Sees, dessen Spiegel er zum erstenmal vollkommen und rein erblickte.
Ottilie hatte diesen Nachmittag einen Spaziergang an den See gemacht. Sie trug das Kind und las im Gehen nach ihrer Gewohnheit. So gelangte sie zu den Eichen bei der überfahrt. Der Knabe war eingeschlafen; sie setzte sich, legte ihn neben sich nieder und fuhr zu lesen.
Eduard, dem es bisher gelungen war, unbemerkt so weit vorzudringen, der seinen Park leer; die Gegend einsam fand, wagte sich immer weiter. Endlich bricht er durch das Gebüsch bei den Eichen, er sieht Ottilien, sie ihn; er fliegt auf sie zu und liegt zu ihren Füssen. Nach einer langen, stummen Pause, in der sich beide zu fassen suchen, erklärt er ihr mit wenig Worten, warum und wie er hieher gekommen. Er habe den Major an Charlotten abgesendet, ihr gemeinsames Schicksal werde vielleicht in diesem Augenblick entschieden. Nie habe er an ihrer Liebe gezweifelt, sie gewiss auch nie an der seinigen. Er bitte sie um ihre Winwilligung. Sie zauderte, er beschwur sie; er wollte seine alten Rechte geltend machen und sie in seine Arme schliessen; sie deutete auf das Kind hin.
Eduard erblickt es und staunt. "Grosser Gott!" ruft er aus, "wenn ich Ursache hätte, an meiner Frau, an meinem Freunde zu zweifeln, so würde diese Gestalt fürchterlich gegen sie zeugen. Ist dies nicht die Bildung des Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen".
"Nicht doch!" versetzte Ottilie; "alle Welt sagt, es gleiche mir". -"Wär es möglich?" versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das Kind die Augen auf, zwei grosse, schwarze, durchdringende Augen, tief und freundlich. Der Knabe sah die Welt schon so verständig an; er schien die beiden zu kennen, die vor ihm standen. Eduard warf sich bei dem Kinde nieder, er kniete zweimal vor Ottilien. "Du bists!" rief er aus, "deine Augen sinds. Ach! Aber lass mich nur in die deinigen schaun. Lass mich einen Schleier werfen über jene unselige Stunde, die diesem Wesen das Dasein gab. Soll ich deine reine Seele mit dem unglücklichen Gedanken erschrecken, dass Mann und Frau entfremdet sich einander ans Herz drücken und einen gesetzlichen Bund durch lebhafte Wünsche entheiligen können? Oder ja, da wir einmal so weit sind, da mein Verhältnis zu Charlotten getrennt werden muss, da du die Meinige sein wirst, warum soll ich es nicht sagen? Warum soll ich das harte Wort nicht aussprechen: dies Kind ist aus einem doppelten Ehbruch erzeugt! Es trennt mich von meiner Gattin und meine Gattin von mir, wie es uns hätte verbinden sollen. Mag es denn gegen mich zeugen, mögen diese herrlichen Augen den deinigen sagen, dass ich in den Armen einer andern dir gehörte; mögest du fühlen, Ottilie, recht fühlen, dass ich jenen Fehler, jenes Verbrechen nur in deinen Armen abbüssen kann!" […]
"Entferne dich, Eduard!" rief Ottilie". "O lange haben wir entbehrt, so lange geduldet. Bedenke, was wir beide Charlotten schuldig sind. Sie muss unser Schicksal entscheiden, lass uns ihr nicht vorgreifen. Ich bin die Deine, wenn sie es vergönnt; wo nicht, so muss ich dir entsagen. Da du die Entscheidung so nah glaubst, so lass uns erwarten. Ottilie sprach in Hast. Sie war glücklich in Eduards Nähe und fühlte, dass sie ihn jetzt entfernen müsse. " -"Ich gehorche deinen Befehlen", rief Eduard, indem er sie erst leidenschaftlich anblickte und sie dann fest in seine Arme schloss. Sie umschlang ihn mit den ihrigen und drückte ihn auf das zärtlichste an ihre Brust. Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg. Sie wähnten, sie glaubten einander anzugehören; sie wechselten zum erstenmal entschiedene, freie Küsse und trennten sich gewaltsam und schmerzlich.
[…]
Als der Major geendigt hatte, antwortete Charlotte mit ganz leiser Stimme, sodass er genötigt war, seinen Stuhl heranzurücken: in einem Falle, wie dieser ist, habe ich mich noch nie befunden, aber in ähnlichen habe ich mir immer gesagt: 'wie wird es morgen sein?' Ich fühle recht wohl, dass das Los von mehreren jetzt in meinen Händen liegt; und was ich zu tun habe, ist bei mir ausser Zweifel und bald ausgesprochen. Ich willige in die Scheidung. Ich hätte mich früher dazu entschliessen sollen; durch mein Zaudern, mein Widerstreben habe ich das Kind getötet. Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt. Vergebens, dass Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen: es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden, wie wir wollen. Doch was sag ich! Eigentlich will das Schicksal meinen eigenen Wunsch, meinen eigenen Vorsatz, gegen die ich unbedachtsam gehandelt, wieder in den Weg bringen. Habe ich nicht selbst schon Ottilien und Eduarden mir als das schicklichste Paar zusammengedacht? Habe ich nicht selbst beide einander zu nähern gesucht? Waren Sie nicht selbst, mein Freund, Mitwisser dieses Plans? Und warum konnte ich den Eigensinn eines Mannes nicht von wahrer Liebe unterscheiden? Warum nahm ich seine Hand an, da ich als Freundin ihn und eine andre Gattin glücklich gemacht hätte? Und betrachten Sie nur diese unglückliche Schlummernde! Ich zittere vor dem Augenblicke, wenn sie aus ihrem halben Totenschlafe zum Bewusstsein erwacht. Wie soll sie leben, wie soll sie sich trösten, wenn sie nicht hoffen kann, durch ihre Liebe Eduarden das zu ersetzen, was sie ihm als Werkzeug des wunderbarsten Zufalls geraubt hat? Und sie kann ihm alles wiedergeben nach der Neigung, nach der Leidenschaft, mit der sie ihn liebt. Vermag die Liebe, alles zu dulden, so vermag sie noch viel mehr, alles zu ersetzen. An mich darf in diesem Augenblick nicht gedacht werden.
Entfernen Sie sich in der Stille, lieber Major. Sagen Sie Eduarden, dass ich in die Scheidung willige, dass ich ihm, Ihnen, Mittlern die ganze Sache einzuleiten überlasse, dass ich um meine künftige Lage unbekümmert bin und es in jedem Sinne sein kann. Ich will jedes Papier unterschreiben, das man mir bringt; aber man verlange nur nicht von mir, dass ich mitwirke, dass ich bedenke, dass ich berate".
Der Major stand auf. Sie reichte ihm ihre Hand über Ottilien weg. Er drückte seine Lippen auf diese liebe Hand. "Und für mich, was darf ich hoffen?" lispelte er leise. "Lassen Sie mich Ihnen die Antwort schuldig bleiben", versetzte Charlotte. "Wir haben nicht verschuldet, unglücklich zu werden, aber durch nicht verdient, zusammen glücklich zu sein".
Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu können. Ein solches Opfer schien ihm nötig zu ihrem allseitigen Glück. Er dachte sich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den vollkommensten Ersatz für das, was sie Eduarden geraubt; er dachte sich einen Sohn auf dem Schosse, der mit mehrerem Recht sein Ebenbild trüge als der abgeschiedene. […]
18.11. Re: Wahlverwandtschaften
> Wahrscheinlich hat sie bei dieser theatralischen Inszenierung … < Aber so wollte ja eigentlich schon, dass ihm bewusst wird, dass sie das nur wegen ihm gemacht hat und er bis an sein Lebensende ein schlechtes Gewissen haben soll…
Hast Du denn im Bett noch einmal darüber nachgedacht…? ;-)
Einen Suizidversuch vorzutäuschen ist wohl eher nicht meine Art. Vielleicht sollte ich mal bösartiger werden… ;-) Aber vielleicht hätte ich über Mirjam verbreiten lassen sollen, dass ich wegen Dir einen Nervenzusammenbruch hatte und mit Nervenfieber darnieder liege und nicht mehr ansprechbar bin oder so… ;-D
Um nochmal auf Goethe zurückzukommen: Mich hat die Geschichte jedenfalls schon wieder unangenehm berührt. Meine eh gerade etwas angeschlagene Stimmung wurde noch melancholischer. Irgendwie erschien mir in der Geschichte trotzdem alles noch etwas einfacher. Und da ich gerade an den Wochenenden gerne besonders merke, wie sehr wir einfach in unserem anderen Leben verankert sind, machte mich die Geschichte irgendwie traurig. Zum Glück habe ich es geschafft, nicht weiter darüber nachzudenken, was damals hätte anders laufen sollen, um der Geschichte eine andere Wendung zu geben…
:-*
30.11. Re: Wahlverwandtschaften
Witzige zeitliche Koinzidenz: Am Deutschen Theater Berlin läuft jetzt bald die Uraufführung eines Stückes namens Westend nach der Romanvorlage von Moritz Rinke. Die Protagonisten hören auf die Namen Eduard und Charlotte; Du kannst Dir also denken, worum es geht ... Eine Komödie mit schwer melancholischem Grundton ... ;-)
"Ein gut situiertes Paar mittleren Alters namens Charlotte und Eduard ist ins Berliner Westend gezogen, in eine leere, heruntergekommene Villa, Sinnbild für ihren Seelenzustand. Als sie eine junge Frau aus der Nachbarschaft und einen Freund aus Studientagen in ihre Hausgemeinschaft aufnehmen, brechen alte Konflikte auf, neue Abgründe tun sich auf. Eduard operiert als Schönheitschirurg im Krisengebiet der westlichen Seele und entfernt die Angst, alt und wertlos zu sein. Michael arbeitet für eine humanitäre Organisation und kommt eben aus Afghanistan zurück; was er mitbringt, sind Geschichten von Gewalt und sinnlosem Sterben. Welten prallen aufeinander, als sich Eduard und Michael nach Jahren wiedersehen – nicht nur politisch, sondern auch privat. Denn Eduard hat mittlerweile Charlotte geheiratet, die davor mit Michael zusammen war. Erneut ist Charlotte zwischen den grundverschiedenen Männern hin- und hergerissen. Und dann ist da noch Lilly, die junge Nachbarin, ebenfalls Medizinstudentin, in deren unbefangene Direktheit sich wiederum Eduard verliebt, sodass die alte Ordnung endgültig zu zerfallen droht."
"Anderen dabei zuzusehen, wie sie an hausgemachten Katastrophen zugrunde gehen, war schon in der Antike ein probates Mittel zum Erhalt der seelischen Gesundheit.", heißt es in einem Kommentar dazu ;-).
Interessant, daß Goethes Plot noch heute Schriftsteller zu zeitgenösssichen Adaptionen anregt. Und das Beste: Ulrich Matthes spielt den Eduard. Könnte sich also lohnen, falls wir mal zum richtigen Zeitpunkt in Berlin sein sollten :-).
30.11. Re: Wahlverwandtschaften
Das ist ja wirklich ein lustiger Zufall. Sollten wir uns merken, falls wir tatsächlich zum richtigen Zeitpunkt in Berlin sind. ;-). Der Breitengrad der Liebe läuft diese Woche zumindest noch in Essen, und das sogar um 20 Uhr… :-) Vielleicht haben wir ja doch Glück und er läuft nächsten Freitag auch noch um 20 Uhr oder später.