oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen
"Niemals habe ich so viel gedacht, nie bin ich von der Tatsache meines Daseins, meines Lebens und, wenn ich so sagen darf, meines Ichs so erfüllt gewesen wie auf meinen einsamen Fußwanderungen. Das Gehen hat etwas, was meine Gedanken erregt und belebt. Wenn ich mich nicht bewege, kann ich kaum denken; mein Körper muß gewissermaßen in Schwung geraten, um auch meinen Geist zum Schwingen zu bringen. Das freie Land, die Aufeinanderfolge so vieler freundlicher Anblicke, die frische Luft, der große Hunger und die Gesundheit, die ich mir stets beim Gehen erwerbe, die Ungezwungenheit des Gasthauses, die Entfernung alles dessen, was mich meine Abhängigkeit fühlen lässt und mich an meine wahre Lage errinnert, befreit meine Seele undverleiht mir eine größere Kühnheit des Denkens." (Rousseau; Bekenntnisse)
"Ich plante also, die allgemeine Befindlichkeit meiner Seele in der jetzigen Situation zu beschreiben - der Absonderlichsten wohl, die einem Sterblichen widerfahren kann. Und am besten, glaubte ich, gelänge mir dies, wenn ich getreulich die Träumereien protokollierte, die meine einsamen Spaziergänge beleben, kaum dass ich meinen Kopf gewähren und meine Gedanken sich völlig ohne Zwang und Steuerung entwickeln lasse. Nur in diesen Stunden der Einsamkeit, da ich Gelegenheit zum Nachsinnen habe und mich nichts ablenkt oder stört, bin ich ganz und gar ich selbst und gehöre mir allein; nur in diesen Stunden kann ich ehrlicherweise von mir behaupten, zu sein, wie die Natur mich wollte." (Rousseau; Träumereien eines einsamen Spaziergängers)
"Rousseau ist nicht der Erste, der eine Verbindung zwischen Gehen und gutem Denken herstellt, aber er ist der erste bedeutende Autor, der darüber reflektiert, was es eigentlich heißt, zu gehen. Er schreibt dem Gehen einen romantischen Wert zu: man kommt der Natur näher, dem Ursprünglichen, und empfindet sogleich Wohlbehagen, ein reines Glücksgefühl. Außerdem ist man frei. Der Gehende fühlt sich frei. Er kann seine Wege selbst wählen. Außerdem ist es gut für das Denken und die Gesundheit, sich zu Fuß fortzubewegen. Am besten gehen wir aus der Stadt heraus, ins Freie, aufs Land und in die Natur; das befreit die Gedanken und wirkt appetitanregend. Aber was sollen wir essen? Wir finden ein Wirtshaus und sind folglich nicht in der Gewalt der Natur. Wir halten uns noch in einiger Entfernung zur Wildniss auf: wir befinden uns mit anderen Worten an einem Ort dazwischen. Und dieses Dazwischen ist der Ort der Romantik. Wir haben einen hübschen Spaziergang aus der Stsdt hinaus gemacht und sind noch ein ganzes Stück von der Wildnis, von unberührter Natur entfernt. Wir befinden uns an einem Ort zwischen der Stadt und ihrem Gegenpol, dem Wildwüchsigen. Hier ist der Mensch von der Forderung nach Wissen und Bildung befreit. Wir halten uns in einer Idylle auf, einer Landschaft, in der ein angenehmer Ausblick den nächsten ablöst. Wir können die Stadt nicht sehen. Wir haben Aussicht auf eine Kulturlandschaft mit Ackerbau und kleinen Bsuernhöfen ... Rousseau schwärmt für die Natur. Sie ist, wenn man so will, seine Geliebte. Er liebt die Natur wie eine Frau. Bei Rousseau ist die Natur in erster Linie eine Vorstellung. Sie ist sauber und unproblematisch, eine Vorstellung von einem besseren und ursprünglicheren Ort für den Menschen. Es scheint, als nähme Rousseau die Natur als eine Abwesenheit von Stadt wahr, von allem, was er verachtet ... " (Tomas Espedal; Gehen: oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen)
"Vor allem, verliere nie die Lust zu gehen. Jeden Tag gehe ich mich in einen Zustand des Wohlbefindens, und gehe fort von jedweder Krankheit. Ich bin zu meinen besten Gedanken gegangen, und ich kenne keinen Gedanken, der so bedrückend wäre, dass man ihn nicht gehend hinter sich lassen könnte. Aber indem man stillsitzt, kommt man dem Gefühl umso näher, krank zu sein." (Kierkegaard)
"Der Weckruf der Sonne: das Licht ist eine Trompete, die zum Fenster hineingehalten wird. Jemand bläst hinein: steh auf! Ich bleibe liegen. Ziehe das Buch von Rousseau aus dem Rucksack, lese ein paar Seiten. Ein reiner Genuß: Morgens im Bett liegen und lesen. Nichts drängt mich, ich kann in der Hütte bleiben, den ganzen Tag hier verbringen, lesen, mir Notizen machen, erst morgen weitergehen. Eine Tasse Kaffee, Frühstück und anschließend wieder ins Bett ... Aber die Sonne scheint, der Himmel ist klar und blau. Ich muß hinaus und gehen. Ich gehe über Hochmoor und Gras, werde von Fliegen und Mücken verfolgt, sehe Vögel auffliegen, höre das Geräusch fliehender Schneehühner, das Herz, dass schlägt, die Beine, die gehen; der Rhythmus des Gehens, jetzt habe ich ihn gefunden. Gehen, ausruhen, essen, denken, sehen. Wasser aus dem Bach trinken, wieder in den Schnee hinaufgehen und fast schon über die Hochebene gleiten in einem gleichbleibenden Tempo, als gingen die Beine von allein. Mühelos, fließend; es gleicht einem Rausch. Vielleicht ist es sogar ein Rausch: der Rausch des Körpers, der Anstiege und Anstrengungen von mir nimmt, Sorgen und Schmerzen aufhebt, die schmerzenden wunden Stellen, die steifen Muskeln, den schweren Rucksack. Ich merke nichts von all dem. Erst, als ich Halt mache und mich ausruhe, nur ganz kurz. Ich gehe weiter. Es gibt einen Punkt, ein Stadium, in dem das Gehen spürbar eine Grenze überschritten hat; ich habe keine Lust mehr, Halt zu machen, will einfach weitergehen, gehen, gehen. Es spielt keine Rolle mehr, wo und warum, in welche Richtung. Das Gehen ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Du kannst gehen, wohin Du willst, so weit Du willst, möglicherweise gehst Du so weit, daß es schwierig werden könnte, zu dem zurückzukehren, was normal ist. Zu dem, was früher war. Man geht zu etwas Neuem. Wenn man weit genug gegangen ist, hat man das Gefühl, zu einer längeren Wanderung aufgebrochen zu sein. Warum sollte man sie abbrechen, warum nicht weitermachen? Wozu? Ich weiß es nicht. Wir gehen." (nach Espedal)
"Einsamkeit. Ein, zwei Namen. Wenn man weit und lange genug auf dem Weg gegangen ist, seinem Weg, bleiben einem noch ein oder zwei Freunde, ein, zwei Namen, das ist alles. Mehr wären ein sicheres Zeichen dafür, daß wir in die Irre gegangen sind, denke ich im Gebirge. Die Gedanken verändern sich in den Bergen. Ihre Zahl wird geringer, aber man denkt konzentrierter, je mehr sich die Bergwelt öffnet und weitet. Man denkt besser, wenn man in den Bergen geht. Man beschließt, weniger umgänglich zu werden, man denkt gefährlicher in den Bergen." (Espedal)
"Ich habe genug" von Johann Sebastian Bach. Bachs Musik bringt mich häufig zum Weinen und immer dazu, mich zu bedanken, ich weiß nicht, bei wem. Ich bin in Bachs Musik zu Hause, nicht in einer Woh-nung, ich fühle mich im Inneren dieser Musik geborgen, in einem Gebiet, dessen Grenzen mir unbekannt sind, in einem kleinen Bauwerk, das der Unendlichkeit entsprechen muß, die wir in uns tragen. Wir besitzen nichts. Ich habe alles, was ich brauche. Ich habe genug. Aber diese Musik Bachs, diese Kantaten machen mich wach, ich will nicht schlafen jetzt. Es gefällt mir, nachts aufzubleiben, noch dazu hier in den Bergen: es ist eine ganz eigene Art, allein zu sein, weit von der Einsamkeit entfernt, die wir in einer Stadt empfinden mögen. Wenn die Einsamkeit groß genug ist, entdecken wir, dass wir niemals allein sind. Es gibt immer jemanden, der mit uns in Verbindung steht. Wir denken an diese Menschen, sie denken an uns; wo ist er jetzt, wie geht es ihm jetzt? Gestern war er noch hier, heute ist er da draußen und auf Reisen, und je weiter er fortreist, desto näher scheint er zu sein, jedenfalls eine Weile ..."
In seinem Essay diskutiert William Hazlitt die Frage, ob es besser ist, allein zu gehen oder in Begleitung eines Anderen. Er kommt zu dem Schluß, dass man besser allein geht. "Ich verstehe nicht, welchen Sinn es haben soll, gleichzeitig zu gehen und zu reden." Hazlitt singt ein Loblied auf die Einsamkeit, die Freiheit, gehen zu können, wohin man will, in seinem eigenen Tempo, ungestört mit der Umgebung zu verschmelzen, tiefgründig seinen Gedanken nachzuhängen. "Niemand liebt Wortspiele, Alliterationen, Antithesen, Argumente und Analysen mehr als ich; aber manchmal geht es mir ohne sie besser." Der Fußmarsch ist für Hazlitt eine Suche nach Stille und reiner Wahrnehmung. Er will fühlen, denken und wieder er selbst werden. Das Gehen ist eine Form der Reinigung. Man entledigt sich jeglicher Schlacke und entgeht allen Störungen. Wer geht, befindet sich in bester Gesellschaft, er ist allein mit sich selbst. "Zu den angenehmsten Dingen in der Welt gehört eine Reise zu Fuß. Aber ich möchte allein gehen. In einem Raum kann ich Gesellschaft genießen, aber im Freien ist mir die Natur Gesellschaft genug. Ich bin niemals weniger allein, als wenn ich allein bin."
Das kleine Büchlein von Tomas Espedal (Gehen: oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen) hatte ich ja schon letztes Jahr im Urlaub gelesen. Ich nahm es jetzt nochmal mit, weil es thematisch so gut passte. Es geht um Espedals eigene kürzere und längere Wanderungen (oft Extremtouren, was Dauer und Umstände betrifft). Er reflektiert in diesem Werk viel über das Gehen und das Denken und wie Beides miteinander zusammenhängen kann, beschäftigt sich dabei aber auch mit einigen wandernden Schriftstellern und deren Überlegungen. Die Passagen, die ich Dir geschickt habe, sind solche, die ich interessant fand bzw. nachdenkenswert oder diskussionswürdig. Manche Ansichten sind sicher speziell, aber Espedal ist auch ein krasser Typ, der alles andere als ein typisches bürgerliches Leben führt.